WER IST DER GEFÜRCHTETSTE IM GANZEN LAND?
Eine Marktanalyse
Eduardo Galeano, in: Freitag, 31. 1. 2003
Die Welt lebt in einem Zustand des Schreckens und der Schrecken verstellt
sich: er behauptet, das Werk Saddam Husseins zu sein, eines der vielen Arbeit
als Feind bereits müden Schauspielers. Oder das Werk Osama bin Ladens,
des Erschreckers vom Dienst.
Der wirkliche Urheber der weltweiten Panik nennt sich selbst: Markt. Der Herr
hat mit dem vertrauten Platz in der Nachbarschaft, den man auf der Suche nach
Früchten und Gemüse aufsucht, nichts zu tun. Er ist ein allmächtiger
Terrorist ohne Gesicht, der wie Gott überall ist und wie Gott glaubt, ewig
zu sein. Seine zahlreichen Dolmetscher bekunden immerfort: "Der Markt ist
nervös", und sie warnen: "Der Markt darf nicht verstimmt werden".
Sein langes Strafregister macht ihn schrecklich. Er verbrachte sein Leben damit,
Nahrung zu rauben, Jobs zu vernichten, Länder zu verschleppen, Kriege zu
schaffen.
Landschaften des Jahrtausends
Um seine Kriege zu verkaufen, sät der Markt Furcht. Und Furcht schafft
ein Klima. Das Fernsehen kümmert sich darum, dass die Twin Towers von New
York täglich von Neuem einstürzen. Oder kümmert sich um die Anthrax-Panik.
Doch was geschah danach? Es gab nicht nur eine offizielle Untersuchung, die
wenig Beweise oder nichts über jene todbringenden Briefe zu Tage förderte:
es gab auch einen spektakulären Zuwachs des Rüstungshaushalts der
Vereinigten Staaten. Und der riesige Geldbetrag, den dieses Land auf die Industrie
des Todes verwendet, ist kein Pappenstiel. Anderthalb Monate dieses Aufwandes
würden genügen, um dem Elend in der Welt ein Ende zu bereiten, wenn
man den niedrigen Zahlen der UNO Glauben schenken darf.
Spieglein, Spieglein an der Wand: Wer ist der Gefürchtetste im ganzen Land?
Die imperialen Mächte monopolisieren von Naturrechts wegen Massenvernichtungswaffen.
Während der Eroberung Amerikas - als entstand, was sie jetzt den Globalen
Markt nennen - töteten die Pocken und die Grippe weitaus mehr Ureinwohner
als Schwert und Arkebuse (*). Die erfolgreiche europäische Invasion stand
hoch in der Schuld von Bakterien und Viren.
Jahrhunderte später wurden diese nützlichen Alliierten in den Händen
der Supermächte zu Kriegswaffen. In einer Hand voll Ländern konzentrieren
sich die biologischen Arsenale. Und die Vereinigten Staaten erlaubten Saddam
Hussein - als er noch der Hofliebling des Westens war - Epidemien säende
Bomben auf die Kurden zu werfen. Die bakteriologischen Waffen waren aus Erreger-Stämmen
erzeugt worden, die man einer Firma in Rockville (Maryland) abgekauft hatte.
Im militärischen Bereich - wie auch sonst überall - predigt der Markt
Freiheit. Konkurrenz mag er weniger. So bleibt das Angebot an bakteriologischen
Kampfmitteln im Namen der Sicherheit aller auf die Hände weniger verteilt.
Saddam Hussein flößt viel Furcht ein. Die Welt zittert. Eine schreckliche
Bedrohung: Der Irak könnte abermals bakteriologische Waffen verwenden und
- noch viel schwerwiegender - eines Tages womöglich Kernwaffen besitzen.
Die Menschheit kann diese Gefahr nicht hinnehmen, verkündet der gefährliche
Präsident des einzigen Landes, das jemals Kernwaffen eingesetzt hat, um
Zivilisten zu treffen - oder war es der Irak, der die alten Männer, die
Frauen und Kinder Hiroshimas und Nagasakis ausrottete ?
Die Landschaften des neuen Jahrtausends bestehen aus Menschen, die nicht wissen,
ob sie morgen etwas zu essen finden werden oder wie sie es schaffen zu überleben,
sollten sie krank werden oder einen Unfall haben. Menschen, die nicht wissen,
ob sie morgen die Arbeit verlieren werden. Oder ob man sie zwingt, für
die halbe Bezahlung doppelt so viel zu arbeiten. Oder ob ihre Rente von den
Wölfen der Börse oder den Mäusen der Inflation verschlungen wird.
Bürger, die nicht wissen, ob sie morgen in ihrem Viertel eine Ecke weiter
angegriffen werden. Ob man ihnen die Wohnung leer raubt oder ob irgendein Verzweifelter
ihnen ein Messer in den Bauch sticht. Bauern, die nicht wissen, ob sie morgen
noch Land zum Bearbeiten haben. Und Fischer, die nicht wissen, ob sie noch Flüsse
oder Meere vorfinden werden, die nicht vergiftet sind. Die Wirtschaft begeht
Verbrechen, die in keine Zeitung kommen: jede Minute tötet sie zwölf
Kinder durch Verhungern. In der Weltordnung, die von den Militärmächten
beschützt wird, gibt es eine Milliarde stets hungriger und 600 Millionen
fetter Menschen.
Wer die meisten Tränen vergießt
Staaten wie Ekuador und El Salvador haben den Dollar als nationale Währung
angenommen, aber die Bevölkerung flieht in Scharen. Nie zuvor brachten
diese Länder so viele Emigranten hervor. Gezwungen sonstwo Arbeit zu finden,
haben die Ekuadorianer 2001 einen größeren Geldbetrag nach Hause
geschickt als die Addition der Exporterträge aus Bananen, Garnelen, Thunfisch,
Kaffee und Kakao ergibt. Auch Uruguay und Argentinien vertreiben ihre jungen
Menschen. Die Emigranten - selbst Enkel von Einwanderern - hinterlassen zerstörte
Familien und Erinnerungen, die schmerzen. "Herr Doktor, die haben mir die
Seele zerstört - in welchem Hospital wird so etwas behandelt?"
In Argentinien bietet ein Fernsehwettbewerb jeden Tag den begehrtesten aller
Preise: einen Job. Die Warteschlangen sind enorm. Das Programmteam wählt
die Kandidaten aus, das Publikum stimmt ab. Wer die meisten Tränen vergießt
und hervorlockt, kann mit einem Job rechnen. Die Verzweiflung derjenigen, die
Arbeit suchen sowie die Beklemmung derjenigen, die Angst haben, sie zu verlieren,
führen zur Akzeptanz des Unannehmbaren. Der ganzen Welt wird das "Wal-Mart-Modell"
aufgezwungen. Die Firma "Nummer Eins" der Vereinigten Staaten verbietet
Gewerkschaften und weitet ihre Arbeitszeit ohne Bezahlung der Überstunden
aus.
Minimale Kosten, maximaler Profit - folglich bricht ein Öltanker auseinander,
und die tödliche schwarze Flut greift die Küsten Galiziens an. Das
gewinnträchtigste Geschäft der Welt erzeugt Vermögen und Naturkatastrophen.
Die giftigen Gase, die durch das Verbrennen von Öl in die Atmosphäre
gelangen, sind die Hauptquelle des Klimawandels, der dazu führt, dass in
Äthiopien und anderen afrikanischen Ländern eine Dürre Millionen
Menschen zur schlimmsten Hungersnot in den vergangenen 20 Jahren verdammt. Aber
das Öl vermag Kriege zu erzeugen.
(*) spätmittelalterliches Gewehr, auch Hakenbüchse genannt
Gekürzte Fassung eines Essays über den globalen Markt. Übersetzung
Uwe Wuttke
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