Stefan Fuchs führte das Gespräch mit Noam Chomsky am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge. Es war Teil eines Programmschwerpunkts USA beim Deutschlandfunk, Köln.

-------------------------------

Kommando-Unternehmen Angst

IM GESPRÄCH

Noam Chomsky über die Tradition amerikanischer Hysterie, über den Terminplan der Republikaner und die Heuchelei des "linken" Interventionismus

Noam Chomsky ist zu einer Art Schutzpatron der Globalisierungskritiker weltweit geworden, in seinem Engagement und intellektuellen Profil vergleichbar mit dem verstorbenen französischen Soziologen Pierre Bourdieu. In diesen Wochen reist der emeritierte Linguistik-Professor durch die USA und ermutigt die Oppositionsbewegung zum Widerspruch gegen den drohenden Irak-Krieg. Die von den amerikanischen Medien behauptete Popularität des Präsidenten George W. Bush hält Chomsky für Propaganda.

-------------------------------

FREITAG: Wenn man 15 Monate nach dem 11. September durch die USA reist, bietet sich immer noch ein sehr eindrucksvolles Bild. Fahnen so weit das Auge reicht, Slogans, militärische Rhetorik, eine Stimmung des nationalen Aufbruchs ist spürbar, die den Europäer an 1914 erinnern muss. Wie erklären Sie sich diese Tiefe des Traumas, das durch den Angriff auf die "Twin-Towers" verursacht wurde und das Amerika anscheinend in einen permanenten Kriegszustand versetzt hat?

NOAM CHOMSKY: Zuallererst muss ich feststellen, dass die Situation auf eindrucksvolle Weise durch das genaue Gegenteil Ihrer Beschreibung gekennzeichnet ist. Vor wenigen Tagen beispielsweise habe ich auf einem Forum an der Harvard-Universität gesprochen. Es war das erste Mal, dass ich Gelegenheit dazu hatte. Der Ansturm war unglaublich, weit mehr als tausend Zuhörer, mehr als je zuvor bei einer vergleichbaren Veranstaltung. Tage zuvor das gleiche Bild, als ich in Milwaukee, einer Arbeiterstadt, auf einer Versammlung sprach, die von einer Bürgerinitiative gegen den Irak-Krieg organisiert worden war. Das ist das erste Mal in der Geschichte, dass es Proteste in diesem Ausmaß gibt, bevor der Krieg überhaupt begonnen hat. Als die USA vor 40 Jahren Vietnam angriffen, war das ganz anders. Es hat Jahre gedauert, bevor der Widerstand dieses Ausmaß erreichte. Da war Vietnam schon fast völlig zerstört, Hanoi buchstäblich in Grund und Boden gebombt mit wahrscheinlich Hunderttausenden von Toten. Auf der anderen Seite haben Sie Recht. Die Menschen in diesem Land haben Angst. Tatsächlich ist Angst ein wichtiges Ziel der Kriegspartei, der Republikaner. Sie wollen, dass dieser Krieg stattfindet, weil Krieg die Angst weiter steigert. Eine verängstigte Bevölkerung muckt nicht auf, sie duckt sich vor der Macht.

Weshalb ist diese Politik der Angst, von der Sie sprechen, so wirksam?

1981 hat Ronald Reagan ja schon einmal den "Krieg gegen den Terror" ausgerufen mit haargenau der gleichen Rhetorik wie nach dem 11. September. Wer waren damals die Terroristen? Es waren die Sandinisten in Nicaragua, von denen die Regierung behauptete, sie könnten jeden Augenblick in Texas einmarschieren, das ja nur zwei Tagesmärsche von Nicaragua entfernt ist. Ganz Amerika zitterte. Der damalige Außenminister George Shultz behauptete allen Ernstes, die Sandinisten folgten einer Strategie aus Hitlers Mein Kampf und planten eine Eroberung der Hemisphäre. Man muss sich das vorstellen: Eines der ärmsten Länder der beiden Amerika marschiert auf Washington, erobert die Hemisphäre nach den Plänen Adolf Hitlers. Reagan erklärte den nationalen Notstand wegen dieser "existenziellen Bedrohung der Sicherheit der Vereinigten Staaten" und ließ ihn Jahr für Jahr verlängern. Gleichzeitig verschanzte er sich im Weißen Haus, weil angeblich libysche Killer im Auftrag Ghaddafis die Straßen von Washington unsicher machten. Angst ist eine Standardtechnik der Macht. Die Vereinigten Staaten haben sie nicht erfunden, aber sie funktioniert hier sehr gut, weil die Amerikaner aus verschiedenen Gründen zu Angsthysterien neigen. Nehmen wir die Angst vor "Aliens". In Europa glauben vielleicht ein paar Verrückte in geschlossenen Anstalten, dass wir von Extraterrestrischen infiltriert sind. In den USA dagegen ist diese Angst weit verbreitet. Und im Fall des 11. September war das reale Ereignis ja furchterregend genug. Zum ersten Mal in der Geschichte wurden die Kanonen umgedreht. Zum ersten Mal haben diejenigen, die traditionell die Opfer waren, einen kleinen Teil jener Gewalt zurückgegeben, die sie bisher vom Westen erfahren hatten. Und das ist natürlich ein enormer Schock.

Warum ist das amerikanische politische System so versiegelt, dass selbst die enorme Verschlechterung der Lebensbedingungen für die Mittelklasse kaum einen Reflex auslöst?

Wir haben kein wirkliches politisches System, keine Parteien. Es gibt nur die eine Unternehmer-Partei mit zwei Flügeln. Und das ist schon sehr lange so. Die Präsidentschaftswahl von 2000 ein Wahlbetrug!? Wen interessiert das? Drei Viertel der Bevölkerung sehen das ganze Wahlspektakel als Farce, als eine Art Privatvergnügen für Besserverdienende unter massiver Beteilung der Werbeindustrie. Und wenn man doch zur Wahl geht, sind die Kriterien alles andere als eigene Interessen. Die Reichen wählen nach ihrer Interessenlage, sie wählen den reaktionären Flügel der amerikanischen Unternehmerpartei, weil der ihnen Steuersenkungen verspricht. Die große Masse aber entscheidet nach völlig irrelevanten Kriterien, die mit ihren wirtschaftlichen oder existenziellen Interessen absolut nichts zu tun haben. Ob der Kandidat religiös ist oder nicht, ob er den Leuten die Schusswaffen lassen will. Wenn man in diesem Land ein politisches System aufbauen wollte, müsste man ganz von vorn anfangen.

Sie haben betont, dass die Ereignisse des 11. September ein Wendepunkt waren, weil zum ersten Mal "die Kanonen umgedreht" wurden. Zugleich aber haben Sie konstatiert, dass es eine historische Kontinuität gibt, zwischen Projekten, die vor und nach dem 11. September verfolgt werden. Welche Projekte haben Sie dabei im Auge?

Innenpolitisch geht es beispielsweise um weitere dauerhafte Steuersenkungen für die Reichen. Bush kam damit vor kurzem nicht durch, aber nach dem Irak-Krieg gibt es sicher wieder Gelegenheit dazu. Auch deshalb ist Irak jetzt, in diesem Winter, ein Problem und nicht erst in sechs Monaten. Saddam Hussein ist ohne Zweifel immer noch der abscheuliche, mordgeile Verbrecher, der er schon war, als die Vereinigten Staaten und Großbritannien ihm noch fröhlich beistanden. Aber er ist viel schwächer als damals, als der Westen ihn unterstützte. Was ist es, das ihn plötzlich zu einer so tödlichen Bedrohung macht, dass die Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice schon einen Atompilz über New York prophezeit, wenn der Irak nicht in diesem Winter besiegt wird? Hat sich etwa die Einschätzung der Gefahr verändert? Natürlich nicht! Diese Leute sind schließlich nicht verrückt. Nein, es ist die eine, wahrscheinlich unwiederbringliche Gelegenheit, die uralten Pläne zur Eroberung der nach Saudi-Arab! ien weltweit größten Ölvorkommen endlich in die Tat umzusetzen. Und der Terminplan muss strikt eingehalten werden. Es muss in diesem Winter sein, nicht etwa im nächsten. Nicht wegen Saddam Husseins Atompilz über New York, sondern weil im nächsten Winter der Wahlkampf bereits in vollem Gange ist, und da müssen die Amerikaner schon in Stimmung sein. Unter keinen Umständen dürfen sie über die Renten oder die Gesundheitsversorgung nachdenken. An den jüngsten Triumph des großen "Cowboys" müssen sie sich erinnern, der sie vom sicheren Verderben gerettet hat. Das ist eine Standard-Technik der Macht. Eine politische Banalität. Eine deutsche Justizministerin musste den Hut nehmen, weil sie solche Banalitäten ausgesprochen hat. Aber sie hatte prinzipiell Recht, das findet man in der deutschen Geschichte genauso wie anderswo. Niemand hat sich bisher etwas Wirksameres ausdenken können. Deshalb ist Saddam Hussein plötzlich diese tödliche Gefahr, deshalb muss noch in diesem Winter gekämpft werden.

Ein Teil der europäischen Linken will in dem Angriff auf das World Trade Center einen Widerstand gegen den Prozess der Globalisierung erkennen, eine Art Dysfunktion der Herrschaftsverhältnisse zwischen Zentrum und Peripherie des globalen Wirtschaftssystems. Terroristische Gewalt als Antwort auf den strukturellen und kulturellen Gewaltcharakter der Weltwirtschaft. Was halten Sie von dieser These?

Ich halte mich an das, was wir über die Islamisten wissen. Ich meine, sie mögen Wahnsinnige sein, aber sie sagen sehr genau und schon seit langem, was ihre Ziele und Motive sind. In den achtziger Jahren haben der britische Geheimdienst und die CIA die wahnsinnigsten Killer, die sie irgendwo auftreiben konnten, in Trainingslager gesteckt und bewaffnet. Die wurden dann gegen die Russen losgelassen, vor allem in Afghanistan. Sobald aber die - nach ihrer Terminologie "Ungläubigen" - das "Heilige Land" verlassen hatten, stellten sie ihre Angriffe ein. Nicht in Tschetschenien. Das ist in ihren Augen wieder ein Fall von Besetzung eines "Heiligen Landes durch die Ungläubigen". Zur gleichen Zeit, da Islamisten 1993 zum ersten Mal versuchten, das World Trade Center in die Luft zu sprengen, hat Bill Clinton afghanische Terroristen nach Bosnien fliegen lassen, damit sie dort an Kampfhandlungen teilnehmen konnten. Die Wende im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten kam, als wir das "Allerheiligste des Heiligen Landes" besetzten, als wir in Saudi-Arabien Militärstützpunkte einrichteten und in der Region diktatorische Regime stützten, die nach ihren Vorstellungen nicht "islamisch" sind. Die Islamisten werden so lange kämpfen, bis die "Ungläubigen" von dort vertrieben sind. Das ist ihr Ziel, die Globalisierung ist ihnen ziemlich gleichgültig.

In Europa haben viele Linke die Verhaftungen von Pinochet begrüßt und den Krieg gegen Serbien unterstützt, weil die Bilder des vorausgegangenen Völkermords in Kroatien und Bosnien Passivität untragbar erscheinen ließen. Ist die "humanitäre Frage" tatsächlich nur ein mächtiges Instrument zur Manipulation der öffentlichen Meinung?

Man muss sich schon eine ausgewachsene geschichtliche Amnesie zugezogen haben, um diesem Diskurs Glauben zu schenken. Was ist denn an der "Einmischung in innere Angelegenheiten", am "Regimewechsel" neu? Schon vor 40 Jahren hat John F. Kennedy seinem Stab befohlen, wie es wörtlich hieß, "alle Schrecken der Erde" auf das Castro-Regime loszulassen, weil "dessen bloße Existenz bereits eine erfolgreiche Herausforderung der amerikanischen Politik der letzten 150 Jahre in dieser Region darstellt". Was folgte, waren terroristische Unternehmungen aller Art, die dann zur Kuba-Krise führten und auch nach der Kuba-Krise fortgesetzt wurden. Immer ging es dabei um einen "Regime-Wechsel".

Sehen Sie keine Veränderung in der Haltung des Westens, insbesondere in den neunziger Jahren?

Wer von den neunziger Jahren spricht, muss sich zunächst mit den Gräueln der Türkei gegen die Kurden befassen. Zwei bis drei Millionen Menschen wurden vertrieben, Zehntausende auf barbarische Weise getötet. Vor einigen Monaten erst habe ich dort die Spuren besichtigt. Wie war das möglich? Es war möglich durch die Unterstützung der NATO. Zu 80 Prozent kamen die Waffen aus den USA, einschließlich Flugzeuge, Napalm und Panzer. Das war keine kleine "ethnische Säuberung". Das war eine riesige logistische Operation. In einem einzigen Jahr, 1997, schickte das Amerika Bill Clintons mehr Waffen in die Türkei als in der gesamten Nachkriegszeit zusammengenommen. Das alles geschah unmittelbar unter den Augen der Europäer. Haben sie sich darum geschert? Natürlich nicht! Europa hat mitgemacht. Was sagt uns das über die westliche Sensibilität gegenüber dem Völkermord? Genozide sind akzeptabel, solange der Westen sie verübt. Zur gleichen Zeit eskalierten die Gräueltaten der Indonesier in Ost-Timor. Indonesien wurde von Großbritannien und den USA unterstützt. 1999 ging es dort schlimmer zu als im Kosovo. Die indonesischen Militärs hatten schon ein Drittel der Menschen getötet und ließen die Welt wissen, dass sie Ost-Timor zerstören würden, wenn seine Bewohner nicht in ihrem Sinne abstimmen würden. Briten und Amerikaner hinderte das nicht, mit ihrer Unterstützung fortzufahren. Nach der Abstimmung - die Bombenangriffe auf Serbien waren schon Geschichte - hielten sich die indonesischen Generäle an ihre Ankündigungen, vertrieben und töteten die Menschen zu Tausenden. Am 8. September 1999 erklärte der amerikanische Verteidigungsminister, das "Schicksal Ost-Timors liege in der Verantwortung der Indonesier", und Amerika wolle es auch dabei belassen. Erst nach drei Tagen des fortgesetzten Mordens beugte sich Clinton dem großen internationalen Druck und den Protesten im eigenen Land und forderte die indonesische Armee zum Rückzug auf. Innerhalb von Stunden zog die sich zurück und ließ eine Friedenstruppe ins Land. Man muss also keine Bomb zu machen. Man muss nur aufhören, sich an ihm zu beteiligen.

Haben die Interventionen auf dem Balkan nicht doch eine andere Qualität?

Es lohnt sich, die Dokumentationen zu lesen, die vom amerikanischen und britischen Außenministerium, von den Beobachtern der NATO und der OSZE über die Ereignisse im Kosovo zusammengetragen wurden. Noch bis zum Januar 1999 gingen die Briten davon aus, dass die meisten der Gräueltaten von den Verbänden der UÇK, der Albanischen Befreiungsarmee, verübt wurden. Die UÇK versuchte nach eigenen Angaben, die Serben über die Grenze hinweg anzugreifen und zu überzogenen Reaktionen zu provozieren, damit man mit den begangenen Menschenrechtsverletzungen die öffentliche Meinung im Westen für sich gewinnen konnte. Mit Kriegsbeginn eskalierten dann die Menschenrechtsverletzungen in dramatischer Weise. War das unvorhersehbar? Es war bis in alle Details vorausgesagt worden. Unmittelbar nach dem Beginn der Bombardierungen hat General Clark, der NATO-Befehlshaber, die Presse darüber informiert, dass man nun mit einer Welle der Menschenrechtsverletzungen rechnen müsse. Heute wissen wir aus seinen "Memoiren", dass er einen Monat zuvor dasselbe in Washington gesagt hatte, als man ihm die Pläne für die Intervention vorlegte. "Sobald die Bomben fallen, werden sie die Bevölkerung zusammentreiben und umbringen", hatte er gesagt. Und auf die Frage, wie man darauf reagieren solle, empfahl er, noch mehr Bomben einzusetzen. Alle Verantwortlichen wussten also ganz genau, dass die Bomben den Völkermord anstacheln würden. Und dennoch haben sie den Befehl zu den Angriffen gegeben. Wenn die Humanisten im Westen die Gewalt beenden wollen, müssen sie nur aufhören, dabei mitzumischen. In der Türkei wäre das sehr einfach gewesen, in Ost-Timor und in Kolumbien ebenso. Wir können die ganze Liste durchgehen bis zu dem, was die Israelis in den besetzten Gebieten tun. Und auch in Serbien sieht es so aus, als habe es sehr wohl diplomatische Alternativen gegeben, die uns die furchtbaren und vorhersehbaren Verbrechen erspart hätten.

Home

Put on the internet by M. Reichl 14.01.03