Eine andere Welt ist möglich

Rede am 3. 10. 2001 Universität Hamburg

Dorothee Sölle

Mit dem Schlag vom 11. September ist die westliche Zivilisation ins Herz getroffen worden, so haben es viele empfunden. Ich auch. Ein Massenmord, in dem Zivilisten ermordet, erstickt, lebendig begraben worden sind. Manche mir nahstehende Freunde haben die Attentäter mit den Nazi-Massenmördern verglichen. Das konnte ich nicht mitvollziehen, weil diese ja nur Knöpfe für Gas drückten, ohne sich selber zu opfern. Aber das ändert nichts am Schmerz, am Entsetzen. Ich habe von einem Menschen gehört, der aus dem 94. Stockwerk zu Fuß eine halbe Stunde lang heruntergegangen ist und unten angekommen merkte, dass er sein Flugticket oben gelassen hatte. Er kehrte um und das Gebäude stürzte ein. Ich denke an diesen mir unbekannten Toten. .

Aber wir müssen weiter denken, die Trauer schließt die Analyse nicht aus, sie braucht sie, um anders zu leben. Ins Herz der Zivilisation sind wir getroffen worden. Aber was ist das für ein Herz? Es ist das Finanzzentrum Manhattans dessen Wahrzeichen das World Trade Center war, das herausragende repräsentative Symbol der modernen Geschäftswelt.

Ist es nicht ein Herz aus Stein? Und das Pentagon, das Zentrum der militärischen Durchsetzung eben dieser Wirtschaftsmacht, der Macht dieser Welt, ist es nicht ein stählernes Herz? In der Trauer um die vielen Menschen, die hier ihr Leben verloren haben, im Mitleiden mit den Betroffenen und ihrer! Angehörigen, aber auch als selber Dazugehörige, die ja zu dieser westlichen Zivilisation gehören, spüren wir noch ein anderes Herz, das in uns schlägt, eine andere Kultur neben der aus Stein und Stahl, ein verwundetes und verwundbares Herz. Auf dieses pochende Herz zu hören, ist jetzt und heute notwendig.

Das steinerne Herz und ganz konsequent das stählerne der Militärmacht ist ohne Gefühl für die Nöte der Menschen. Sie werden ja seit etwa 10 Jahren eingeteilt, es gibt eben winner und loser, 20 % der Menschen gehören zu den Gewinnern sie haben dass Recht gut zu leben, lang zu leben, neue Organe zu kaufen, wenn die alten nicht mehr funktionieren. 80 % der Menschen gehören zu den Verlierern, sie produzieren wenig Brauchbares und konsumieren auch nicht richtig, wozu sind sie also eigentlich da? So denkt und fühlt das steinerne Herz.

Die Ökonomie, in der wir leben, wird immer totalitärer. Sie unterscheidet sich sehr von den beiden totalitären Systemen, die wir aus dem vorigen Jahrhundert kennen, sie ist intelligenter und effizienter und vor allem "softer", sie brüllt nicht Kommandos, sondern wirbt mit zarter Stimme. Sie diktiert den Takt unseres beschleunigten Lebens, sie erzwingt tendenziell die politischen Entscheidungen der Verantwortlichen, Wirtschaft ist eben wichtiger als Politik. Das steinerne und das stählerne Herz ohne Gefühl für die Nöte und wirklichen Bedürfnisse der Menschen geben den Takt, die Zeiteinteilung, die Relevanz an. Manager und Klinikdirektoren müssen eben 60 Stunden pro Woche arbeiten, und Massenentlassungen lassen bekanntlich die Aktien steigen. Die wichtigste Frage in unserem Leben ist in den letzten Jahren eine einzige geworden, die "ob es sich rechnet".

Bundeskanzler Schroeder hat von einer "Kriegserklärung gegen die zivilisierte Welt" gesprochen. Die Vokabeln gehen auf Samuels Huntingtons Zusammenstoß der Kulturen, den " The Clash of Civilizations? " zurück. Aber ist es möglich die Reichen mit dem steinernen Herzen als "zivilisiert" und die Verelendeten als "unzivilisiert" zu bezeichnen? Oder um es gleich mit George Bush zu benennen, gibt es jetzt den "monumentalen Kampf, den das "Gute gegen das Böse" zu führen hat? Welches Herz spricht denn da?

Unser fleischernes Herz weiß doch, mindestens manchmal, wie es um die verelendete Welt steht. Und wir ahnen vielleicht, das, was angesichts dieser barbarischen Katastrophe verlangt wird. Es ist nicht militärische Vergeltung, sondern eine Kurskorrektur unserer Lebensweise, ein Überprüfen der Werte, die unser Handeln bestimmen, ein Eingeständnis eigener Schuld am Leiden, am Elend, an der Demütigung derer, die in uns ihre Feinde sehen. Es wird in diesen Tagen vom ersten Krieg im 21. Jahrhundert geredet. So barbarisch der Mord an 6000 Zivilisten ist, wir sollten unsere Augen nicht schließen vor der Tatsache, dass Krieg doch schon ist: der wirtschaftliche Krieg der Starken und der Stärksten gegen die Schwachen und Schwächsten. Dieser Krieg muss endlich aufhören, er erzeugt nichts als Hass und den Vernichtungswillen der starken, technologisch perfekt Ausgebildeten, die in der Elendswelt keine Hoffnung mehr sehen können. " Selbstmordattentäter" ist ein neuer und grauenvoller Begriff, früher hat man es auf den weniger gewalttätigen Satz gebracht "Macht kaputt, was euch kaputt macht." Dagegen hilft keine Überlegenheit, weder technologisch, noch wirtschaftlich, noch militärisch. Wir sind als Menschen und als offene Gesellschaft verletzlich, und solange der wirtschaftliche Krieg weitergeht, werden die Bedrohungen zunehmen für uns. Das Fenster der Verwundbarkeit lässt sich nicht schließen, das ist ein grundlegender Irrtum, der in der Reagan-Bush-Tradition absolut verklärt und üblich ist.

Noam Chomsky, einer der schärfsten Kritiker der USA seit dem Vietnamkrieg, sagte, das Attentat auf die Twin Towers sei ein "niederschmetternder Schlag für die Palästinenser, für die Armen und Unterdrückten. . .weil es ihre legitimen Ängste und Klagen in den Hintergrund gedrängt hat. . .Wenn die US-Regierung Bin Ladens Gebete erhört ( ein wunderbar ironischer Satz!) und einen massiven Angriff auf Afghanistan oder irgend eine andere muslimische Gesellschaft ausführt, dann wird genau das passieren, was Bin Laden und seine Verbündeten wollen- eine Mobilmachung gegen den Westen." (taz 20.9.) Ich frage mich manchmal, wer eigentlich der Terrorist ist.

Ich möchte hier gern noch einige andere Stimmen des "anderer Amerikas" zu Wort bringen, weil bei uns die amerikanische Opposition gegen Bush und Co. so unbekannt ist. Sie hat den Begriff des Terrorismus aufgenommen und fragt sich, wer eigentlich die Terroristen sind, die in Kolumbien, Palästina, Kosovo, Ruanda, Bosnien und im Kongo morden, welche Geldgeberund Interessen dahinterstecken. Und wer kämpft denn gegen den Terror der Ökonomie, es sind doch im wesentlichen landlose Bauern in Brasilien, indische Frauen, die gegen die Biopiraterie von Monsanto aufstehen, fromme Christen, die noch wissen, dass auch wir unsern Schuldnern vergeben sollen. Die große wachsende Bewegung gegen die Globalisierung von oben ist gewaltfrei- und es sind umgekehrt die Herren dieser Welt, die sich in Genua von den Polizeiterroristen beschützen ließen.

Ein amerikanischer Freund, Theologieprofessor, schrieb nach dem 11. September einen Rundbrief über "unser geliebtes Amerika", "Wir sind gewalttätig, zuhause und im Ausland. Wir sind führend dabei, Waffen herzustellen und sie gut zu verkaufen. Wir haben einige der schlimmsten Unterdrückungssysteme der Welt unterstützt, wir haben ihnen bei Terroraktionen gegen die eigene Bevölkerung geholfen. Wir haben für uns einen Lebensstil kultiviert, der die Verelendung anderer benötigt." (Tom Driver )

So wird der Terror der Ökonomie klar benannt. Der amerikanische Filmregisseur und Aktivist Tim Robbins hat im August über die neue Bewegung der Globalirungsgegner in den USA gesprochen, "es gibt eine neue breite Koalition von Studenten, Umweltschützern. Gewerkschaften, Bauern, Wissenschaftlern und anderen Bürgern, die sich als vorderste Front des Kampfes um die Zukunft dieses Planeten verstehen. "(taz 28.8. 01) Robbins vergleicht die neue Bewegung mit den frühen Kämpfen für die Abschaffung der Sklaverei im 18. Jahrhundert. Es war eine im wesentlichen gewaltfreie, von Quäkern und anderen Christen initiierte Bewegung. Heute entsteht etwas Ähnliches, vor unsern Augen, auch bei uns. . Wir können ja alle wissen, wie die Globalisierung von oben neue Formen der Sklaverei ermöglicht, die unsere T-Shirts so billig macht. Damals hat es 100 Jahre gebraucht, um die Sklaverei abzuschaffen, um Kinderarbeit zu beenden und Mindestlöhne einzuführen.

Dieser Kampf wartet auf uns. Wir können aus der Geschichte der Gewaltfreiheit für das, was heute notwendig ist, lernen. Mahatma Gandhi nannte diese Form der Freiheit "die größte Macht, die der Menschheit in die Hand gegeben ist, mächtiger als die mächtigste Zerstörungswaffe". Wir sollten versuchen, an diese Kraft zu glauben.

Eine der vielen neuen Bewegungen in den USA heißt "Justice, not Vengeance" , Menschen wie Rosa Parks, Alice Walker, Gloria Steinen machen da mit. Großstädte wie San Francisco und Seattle erklären sich zu "hassfreien Zonen". Gerechtigkeit ist die Antwort auf den Terror, die wir brauchen. Gerechtigkeit ist langsam, nachdenklich, geduldig und langfristig, Rache ist oft schnell und ihre Ergebnisse allzu kurzfristig. Die Rachsucht hat keine Vision hinter sich und keine Zukunft vor sich.

Das sind Botschaften, die wir aus Amerika hören und wir sollten sie hier einbürgern. Mit andern Worten: Wenn wir uns nicht ändern, wird sich nichts bessern. Jesus meinte, wer das Schwert nimmt, wird durchs Schwert untergehen. Die wesentlichen Lebensbedingungen in unserer Welt haben sich für die 80 % in einem Maß verschlechtert, das wir alle nicht mehr ertragen sollten. Aufstehen für den Frieden! heißt heute "Aufstehen für die Gerechtigkeit" die die Grundbedingung für Frieden ist. Die Globalisierung von oben ist ein barbarisches System der Verelendung der Mehrheit der Menschen und der Zerstörung der Erde. Wir brauchen eine andere wirtschaftliche Globalisierung. Von unten. Im Interesse der Erde, im Interesse der Ärmsten.

"Da helfen Raketen und Bomben nichts..."

Johan Galtung

Im Gespräch v. 14.9.2001 mit Peter Schmidt für die Wochenzeitung "DIE FURCHE". (Leicht gekürzt in der Ausgabe vom 19.9.2001 und vollständig im "Rundbrief" Nr. 102, Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit)

Der schockierende Terrorangriff auf die Zentren der USA wirft nicht nur die Frage nach den Tätern und den militärischen Gegenschlägen auf, sondern auch nach den Ursachen solcher Anschläge, die wie im jahrzehntelangen Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern den sicheren Tod der Attentäter einschließen. Trauer, Schock und der Ruf nach Rache in den USA sollen aber auch die wichtige Frage nach dem 'Warum' nicht verdecken, meint der weltbekannte Friedensforscher Prof. Johan Galtung, der gerade diese Wochen in Wien weilt.

F.: Ihre Statements zu den Anschlägen in den USA sind auf Kritik gestoßen...

G.: Man hat mir vorgeworfen, ich rechtfertige den Terrorangriff auf New York und Washington. Mein Ansatz ist, zu erklären, wieso gerade die USA Ziel solcher Attacken sind - ohne daß ich solche Terrorakte billige!

Es fühlen nicht nur die Menschen in den USA Angst und Haß - auch in den von den Gegenschlägen bedrohten Ländern, in Afghanistan, Pakistan, dem Sudan, Irak, wo die meisten Menschen in Armut und Repression leben, herrscht Furcht und Wut vor einem Schlag des militärisch übermächtigen Gegners USA.

Versöhnung heißt, die Verletzungen von Körper und Seele heilen und die zerbrochenen Beziehungen aufarbeiten. Aufarbeiten heißt aber auch für die USA, sich ihrer Geschichte und damit auch der Vorgeschichte dieser Anschläge zu stellen:

F.: Ist das bisher nicht geschehen?

G.: Bisher kaum. Nehmen Sie den Krieg in Vietnam mit seinen 2 Millionen toter Vietnamesen - auch die US-Army hatte schwere Verluste und letztendlich den Krieg verloren. Aber: in den Schulbüchern der USA hat man vor 6 Jahren die Bilder und Berichte der Greuel: Napalm verbrannte Kinder, das Massaker von My Lai, Erschießungen usw. einfach herausgenommen. Untersuchungen an US-Universitäten zeigen, daß heute über den Vietnamkrieg grenzenloses Unwissen herrscht - so haben ein Viertel der Studenten ausgesagt, der Vietnamkrieg hätte zwischen Nord- und Südkorea stattgefunden! Und nach dem Bombardement des Irak 1991 sagte Präsident Bush senior damals: "We have kicked out the Vietnam-syndrom forever..."

Oder die Atombombenabwürfe in Hiroshima und Nagasaki: Das einzige Foto - die Ruinen von Hiroshima ohne Opfer - ist vor über zehn Jahren aus den Schulbüchern eliminiert worden. Heute gibt es zwei Bilder : Die Atombombe "Little Boy" und der Bomber "Nora Gray" in den Schulbüchern. Im Atomkriegsmuseum in Texas könnten Kinder sogar auf den 'netten' Atombombenattrappen reiten. Es gab Ohrgehänge in Mini-A-Bomben-Form für BesucherInnen - erst nach Protesten japanischer Touristen hat man den Verkauf eingestellt!

F.: Und die Vorgeschichte zu den Terroranschlägen?

G.: Die USA haben 228 Militärinterventionen o h n e Mandat der UNO durchgeführt. Mit Hilfe des CIA sind von 1949 bis 1987 an die 7 Millionen Menschen umgebracht worden. Das waren zumeist kleine Leute in sogenannten "linken" Organisationen, in Indonesien, auf den Philippinen, im Iran des Schah, im Sudan unter Numeiri, im NATO-Land Türkei, in Latein- und Zentralamerika, Guatemala, El Salvador... In Panama gab es sogar die US-Schule für Terrorbekämpfung mit Anleitungen zum Foltern! Schon 1992 hat US-General Rock festgestellt: In Bezug auf Invasionen hat die USA bereits das Römische Weltreich übertroffen!

Ich habe mit solchen Anschlägen schon seit über zehn Jahren gerechnet und darauf gewartet, auch auf noch schlimmere Szenarien!

Wie oft haben die USA angegriffen: 1983 im Libanon; 1986 Bombenangriff auf Libyen - dabei wurde die Ziehtochter Gaddafis getötet; 1989 die Panama-Invasion, wo man von den tausenden Toten nichts gehört hat; denken Sie an den Irak, wo von 1991 bis heute die Bomben und das Embargo über eine halbe Million Tote - großteils Kinder - forderten...

F.: Da gibt es keine Trauer- und Gedenkminuten, genausowenig wie für die Opfer der Angriffe auf Serbien und den Kosovo, und auch wenig Medienberichte darüber - wie ist das zu erklären?

G.: Große PR-Agenturen in den USA wie 'Ruder Finn Global Affairs' oder 'Hill and Knowlton' steuern und beeinflussen die Berichterstattung in den USA - nach Schätzungen bis zu 4o % der Informationen!

Dazu ein Beispiel aus dem Golfkrieg: Sicher haben die Irakis in Kuwait übel gehaust und Greuel begangen - aber 'Hill and Knowlton' haben darüberhinaus noch schlimme Lügen sehr publikumswirksam über den Irak verbreitet (Irakis hätten im Spital in Kuwait City Brutkasten-Babies ermordet), falsche Zeugen bei Pressekonferenzen auftreten lassen usw. Die Schurkenstaaten werden verteufelt, die "good guys" positiv hervorgehoben, ihre Untaten verschwiegen.

F.: Ist das in der Demokratie USA möglich?

G.: Es gibt natürlich auch viele kritische Publikationen - insoweit funktioniert die US-Demokratie. Das Buch von William Blum "Rogue state" (=Schurkenstaat, gemeint ist die USA) zum Beispiel. Oder die Analyse von Noam Chomsky über die Dominanz des militärisch-industriellen Komplexes, d.h. von Macht und Profitstreben in den USA.

Ich möchte aber noch einen Faktor zu Chomskys Analyse einbringen: das Sendungsbewußtsein der USA. Diese drei Faktoren bilden diese außergewöhnliche Machtausübung der USA.

F.: Sie meinen die Macht- und Gewaltausübung bringt Gegengewalt, wer Wind sät, wird Sturm ernten...

G.: Und diese Gewaltausübung wird ja von vielen Staaten gutgeheißen: Von Staaten die dasselbe wollen, aber nicht die Macht dazu haben - und von Staaten, die vor den USA Angst haben, wie jetzt viele arabische Staaten und Pakistan zum Beispiel . Die Bevölkerung reagiert mit Wut und Haß auf diese US-Hegemonie, hat aber nichts zu sagen.

Nehmen Sie nur die etwa 100.000 Toten täglich als Folge von Unterernährung, Krankheit, fehlender sozialer Absicherung. Bei jedem Toten sind etwa zehn Menschen - Familienangehörige, Freunde - mit betroffen. Das heißt, daß eine Million in Leid, Haß, Wut zusammengeballt ist gegen die 'Neue Weltordnung', gegen die Weltwirtschaft, das Finanzsystem, die Spekulation, geschützt von der militärischen Supermacht USA! Die Attentäter haben ja einen "Text", eine Botschaft hinterlassen: Angriff auf die beiden World-Trade-Center-Türme, die stehen für Welthandel, Investmentfirmen, Banken; Angriff auf das Pentagon - auf die militärische Supermacht USA; Angriff auf das State Department (Außenministerium) - auf die politische Macht der USA!

F.: Wie wird das weitere Szenario aussehen?

G.: Sehr wahrscheinlich sind massive US-Militärschläge, auch Angriffe mit Bodentruppen (Codewort "Infinite Justice = Grenzenlose Gerechtigkeit". M.R.). Derzeit gibt es in den Medien und - verständlicherweise - in der Bevölkerung eine enorme Zustimmung und Rückendeckung - nicht nur in den USA. Die Menschen verlangen, daß etwas geschehen muß nach diesem Grauen. Aber wenn Verteidigungsminister Colin Powell verspricht: "We will crash this network", dann muß man dem entgegenhalten, daß dieses auf der ganzen Welt verstreute Netzwerk zu zerstören unmöglich ist. Da helfen Raketen und Bomben nichts! Dann werden ganze Länder bombardiert und es kommt nur zur Eskalation der Vergeltungsspirale wie in Israel! Der öffentliche Druck ist so groß, daß den US-Geheimdiensten zuzutrauen ist, Beweismittel zu manipulieren, um den Feind, die Feinde zu personalisieren, zu identifizieren. Da müssen die europäischen Alliierten in der NATO aufpassen! Kritik der NATO-Mitgliedsstaaten wird geheimgehalten, Bündnistreue ist angesagt - welcher Politiker hat den Mut zum Widerspruch, zum Bedenken - gegen die USA und gegen die öffentliche Meinung?

F .: Und das Szenario einer gerechten Lösung, die letztendlich Frieden bringt?

G.: Viele Gruppen in den USA und bei uns arbeiten für Versöhnung, Gerechtigkeit, Einsicht, sind aber in den Medien kaum präsent, werden oft denunziert als "Verräter, Linke, Chaoten, Narren". Sie haben aber trotzdem große Erfolge gehabt in der Geschichte: Denken Sie an die Proteste gegen den Vietnam-Krieg. Veteranen trafen sich in Hanoi, haben Hilfslieferungen organisiert, sich entschuldigt, ein ehemaliger in Gefangenschaft geratener US-Bomberpilot ist US-Botschafter in Vietnam.

Denken Sie an die Friedensbewegung gegen die Nuklearaufrüstung 1983/84, vor allen an die vielen kirchlichen Gruppen. Der Bischof von Auckland hat damals ein großartiges Buch geschrieben über die "Natur Gottes": "Gott hat die Schöpfung nicht geschaffen, damit sie vom Menschen vernichtet wird - das ist nicht Gottes Wille!" schreibt er. Denken Sie an die vielen Umweltgruppen, die "grassroots"-Bewegung in den USA.

Ich hoffe, daß solche Bewegungen wieder stärker werden - derzeit aber ist der Schmerz über die Opfer, die Wut über diesen Terror noch zu groß.

Wenn auch die Regierungen der europäischen NATO-Staaten einig mit den USA sind - vielleicht werden sie bald das "falsche " Volk haben, das da nicht mehr mitspielt und sagt: diese Spirale der Rache ist doch keine Lösung! Die Angriffe richten sich ja ausschließlich - noch! - gegen die USA!

Vielleicht kommt die Wende auch in den USA, vielleicht werden bald Fragen gestellt: Warum waren und sind wir direkt oder indirekt an fast allen Kriegen beteiligt? Was machen w i r falsch?

F.: Verzicht auf Vergeltung - bedeutet das nicht eine Ermunterung für weiteren Terror?

G.: Der Anschlag selbst - nochmals: den ich nicht billige! - war Vergeltung für die US-Politik des "big stick", Vergeltung für die "Neue Weltordnung", die soviel Armut schafft - und Armut ist auch eine der Wurzeln des islamischen Fundamentalismus!

Die Täter sollen ihrer gerechten Strafe zugeführt werden, aber im Moment sieht es nach wahllosem überharten Zuschlagen gegen vermeintliche Schurkenstaaten aus. Das ist das sicherste Mittel weitere Anschläge zu provozieren.

Verzicht auf Rache, auf Vergeltung - kann das zu weiterer Gewalt ermuntern?