"Da helfen Raketen und Bomben nichts..."

Johan Galtung

Im Gespräch v. 14.9.2001 mit Peter Schmidt für die Wochenzeitung "DIE FURCHE". (Leicht gekürzt in der Ausgabe vom 19.9.2001 und vollständig im "Rundbrief" Nr. 102, Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit)

Der schockierende Terrorangriff auf die Zentren der USA wirft nicht nur die Frage nach den Tätern und den militärischen Gegenschlägen auf, sondern auch nach den Ursachen solcher Anschläge, die wie im jahrzehntelangen Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern den sicheren Tod der Attentäter einschließen. Trauer, Schock und der Ruf nach Rache in den USA sollen aber auch die wichtige Frage nach dem 'Warum' nicht verdecken, meint der weltbekannte Friedensforscher Prof. Johan Galtung, der gerade diese Wochen in Wien weilt.

F.: Ihre Statements zu den Anschlägen in den USA sind auf Kritik gestoßen...

G.: Man hat mir vorgeworfen, ich rechtfertige den Terrorangriff auf New York und Washington. Mein Ansatz ist, zu erklären, wieso gerade die USA Ziel solcher Attacken sind - ohne daß ich solche Terrorakte billige!

Es fühlen nicht nur die Menschen in den USA Angst und Haß - auch in den von den Gegenschlägen bedrohten Ländern, in Afghanistan, Pakistan, dem Sudan, Irak, wo die meisten Menschen in Armut und Repression leben, herrscht Furcht und Wut vor einem Schlag des militärisch übermächtigen Gegners USA.

Versöhnung heißt, die Verletzungen von Körper und Seele heilen und die zerbrochenen Beziehungen aufarbeiten. Aufarbeiten heißt aber auch für die USA, sich ihrer Geschichte und damit auch der Vorgeschichte dieser Anschläge zu stellen:

F.: Ist das bisher nicht geschehen?

G.: Bisher kaum. Nehmen Sie den Krieg in Vietnam mit seinen 2 Millionen toter Vietnamesen - auch die US-Army hatte schwere Verluste und letztendlich den Krieg verloren. Aber: in den Schulbüchern der USA hat man vor 6 Jahren die Bilder und Berichte der Greuel: Napalm verbrannte Kinder, das Massaker von My Lai, Erschießungen usw. einfach herausgenommen. Untersuchungen an US-Universitäten zeigen, daß heute über den Vietnamkrieg grenzenloses Unwissen herrscht - so haben ein Viertel der Studenten ausgesagt, der Vietnamkrieg hätte zwischen Nord- und Südkorea stattgefunden! Und nach dem Bombardement des Irak 1991 sagte Präsident Bush senior damals: "We have kicked out the Vietnam-syndrom forever..."

Oder die Atombombenabwürfe in Hiroshima und Nagasaki: Das einzige Foto - die Ruinen von Hiroshima ohne Opfer - ist vor über zehn Jahren aus den Schulbüchern eliminiert worden. Heute gibt es zwei Bilder : Die Atombombe "Little Boy" und der Bomber "Nora Gray" in den Schulbüchern. Im Atomkriegsmuseum in Texas könnten Kinder sogar auf den 'netten' Atombombenattrappen reiten. Es gab Ohrgehänge in Mini-A-Bomben-Form für BesucherInnen - erst nach Protesten japanischer Touristen hat man den Verkauf eingestellt!

F.: Und die Vorgeschichte zu den Terroranschlägen?

G.: Die USA haben 228 Militärinterventionen o h n e Mandat der UNO durchgeführt. Mit Hilfe des CIA sind von 1949 bis 1987 an die 7 Millionen Menschen umgebracht worden. Das waren zumeist kleine Leute in sogenannten "linken" Organisationen, in Indonesien, auf den Philippinen, im Iran des Schah, im Sudan unter Numeiri, im NATO-Land Türkei, in Latein- und Zentralamerika, Guatemala, El Salvador... In Panama gab es sogar die US-Schule für Terrorbekämpfung mit Anleitungen zum Foltern! Schon 1992 hat US-General Rock festgestellt: In Bezug auf Invasionen hat die USA bereits das Römische Weltreich übertroffen!

Ich habe mit solchen Anschlägen schon seit über zehn Jahren gerechnet und darauf gewartet, auch auf noch schlimmere Szenarien!

Wie oft haben die USA angegriffen: 1983 im Libanon; 1986 Bombenangriff auf Libyen - dabei wurde die Ziehtochter Gaddafis getötet; 1989 die Panama-Invasion, wo man von den tausenden Toten nichts gehört hat; denken Sie an den Irak, wo von 1991 bis heute die Bomben und das Embargo über eine halbe Million Tote - großteils Kinder - forderten...

F.: Da gibt es keine Trauer- und Gedenkminuten, genausowenig wie für die Opfer der Angriffe auf Serbien und den Kosovo, und auch wenig Medienberichte darüber - wie ist das zu erklären?

G.: Große PR-Agenturen in den USA wie 'Ruder Finn Global Affairs' oder 'Hill and Knowlton' steuern und beeinflussen die Berichterstattung in den USA - nach Schätzungen bis zu 4o % der Informationen!

Dazu ein Beispiel aus dem Golfkrieg: Sicher haben die Irakis in Kuwait übel gehaust und Greuel begangen - aber 'Hill and Knowlton' haben darüberhinaus noch schlimme Lügen sehr publikumswirksam über den Irak verbreitet (Irakis hätten im Spital in Kuwait City Brutkasten-Babies ermordet), falsche Zeugen bei Pressekonferenzen auftreten lassen usw. Die Schurkenstaaten werden verteufelt, die "good guys" positiv hervorgehoben, ihre Untaten verschwiegen.

F.: Ist das in der Demokratie USA möglich?

G.: Es gibt natürlich auch viele kritische Publikationen - insoweit funktioniert die US-Demokratie. Das Buch von William Blum "Rogue state" (=Schurkenstaat, gemeint ist die USA) zum Beispiel. Oder die Analyse von Noam Chomsky über die Dominanz des militärisch-industriellen Komplexes, d.h. von Macht und Profitstreben in den USA.

Ich möchte aber noch einen Faktor zu Chomskys Analyse einbringen: das Sendungsbewußtsein der USA. Diese drei Faktoren bilden diese außergewöhnliche Machtausübung der USA.

F.: Sie meinen die Macht- und Gewaltausübung bringt Gegengewalt, wer Wind sät, wird Sturm ernten...

G.: Und diese Gewaltausübung wird ja von vielen Staaten gutgeheißen: Von Staaten die dasselbe wollen, aber nicht die Macht dazu haben - und von Staaten, die vor den USA Angst haben, wie jetzt viele arabische Staaten und Pakistan zum Beispiel . Die Bevölkerung reagiert mit Wut und Haß auf diese US-Hegemonie, hat aber nichts zu sagen.

Nehmen Sie nur die etwa 100.000 Toten täglich als Folge von Unterernährung, Krankheit, fehlender sozialer Absicherung. Bei jedem Toten sind etwa zehn Menschen - Familienangehörige, Freunde - mit betroffen. Das heißt, daß eine Million in Leid, Haß, Wut zusammengeballt ist gegen die 'Neue Weltordnung', gegen die Weltwirtschaft, das Finanzsystem, die Spekulation, geschützt von der militärischen Supermacht USA! Die Attentäter haben ja einen "Text", eine Botschaft hinterlassen: Angriff auf die beiden World-Trade-Center-Türme, die stehen für Welthandel, Investmentfirmen, Banken; Angriff auf das Pentagon - auf die militärische Supermacht USA; Angriff auf das State Department (Außenministerium) - auf die politische Macht der USA!

F.: Wie wird das weitere Szenario aussehen?

G.: Sehr wahrscheinlich sind massive US-Militärschläge, auch Angriffe mit Bodentruppen (Codewort "Infinite Justice = Grenzenlose Gerechtigkeit". M.R.). Derzeit gibt es in den Medien und - verständlicherweise - in der Bevölkerung eine enorme Zustimmung und Rückendeckung - nicht nur in den USA. Die Menschen verlangen, daß etwas geschehen muß nach diesem Grauen. Aber wenn Verteidigungsminister Colin Powell verspricht: "We will crash this network", dann muß man dem entgegenhalten, daß dieses auf der ganzen Welt verstreute Netzwerk zu zerstören unmöglich ist. Da helfen Raketen und Bomben nichts! Dann werden ganze Länder bombardiert und es kommt nur zur Eskalation der Vergeltungsspirale wie in Israel! Der öffentliche Druck ist so groß, daß den US-Geheimdiensten zuzutrauen ist, Beweismittel zu manipulieren, um den Feind, die Feinde zu personalisieren, zu identifizieren. Da müssen die europäischen Alliierten in der NATO aufpassen! Kritik der NATO-Mitgliedsstaaten wird geheimgehalten, Bündnistreue ist angesagt - welcher Politiker hat den Mut zum Widerspruch, zum Bedenken - gegen die USA und gegen die öffentliche Meinung?

F .: Und das Szenario einer gerechten Lösung, die letztendlich Frieden bringt?

G.: Viele Gruppen in den USA und bei uns arbeiten für Versöhnung, Gerechtigkeit, Einsicht, sind aber in den Medien kaum präsent, werden oft denunziert als "Verräter, Linke, Chaoten, Narren". Sie haben aber trotzdem große Erfolge gehabt in der Geschichte: Denken Sie an die Proteste gegen den Vietnam-Krieg. Veteranen trafen sich in Hanoi, haben Hilfslieferungen organisiert, sich entschuldigt, ein ehemaliger in Gefangenschaft geratener US-Bomberpilot ist US-Botschafter in Vietnam.

Denken Sie an die Friedensbewegung gegen die Nuklearaufrüstung 1983/84, vor allen an die vielen kirchlichen Gruppen. Der Bischof von Auckland hat damals ein großartiges Buch geschrieben über die "Natur Gottes": "Gott hat die Schöpfung nicht geschaffen, damit sie vom Menschen vernichtet wird - das ist nicht Gottes Wille!" schreibt er. Denken Sie an die vielen Umweltgruppen, die "grassroots"-Bewegung in den USA.

Ich hoffe, daß solche Bewegungen wieder stärker werden - derzeit aber ist der Schmerz über die Opfer, die Wut über diesen Terror noch zu groß.

Wenn auch die Regierungen der europäischen NATO-Staaten einig mit den USA sind - vielleicht werden sie bald das "falsche " Volk haben, das da nicht mehr mitspielt und sagt: diese Spirale der Rache ist doch keine Lösung! Die Angriffe richten sich ja ausschließlich - noch! - gegen die USA!

Vielleicht kommt die Wende auch in den USA, vielleicht werden bald Fragen gestellt: Warum waren und sind wir direkt oder indirekt an fast allen Kriegen beteiligt? Was machen w i r falsch?

F.: Verzicht auf Vergeltung - bedeutet das nicht eine Ermunterung für weiteren Terror?

G.: Der Anschlag selbst - nochmals: den ich nicht billige! - war Vergeltung für die US-Politik des "big stick", Vergeltung für die "Neue Weltordnung", die soviel Armut schafft - und Armut ist auch eine der Wurzeln des islamischen Fundamentalismus!

Die Täter sollen ihrer gerechten Strafe zugeführt werden, aber im Moment sieht es nach wahllosem überharten Zuschlagen gegen vermeintliche Schurkenstaaten aus. Das ist das sicherste Mittel weitere Anschläge zu provozieren.

Verzicht auf Rache, auf Vergeltung - kann das zu weiterer Gewalt ermuntern?