Leopold Kohr, umfassender Denker und Buchautor, publizierte vor 60 Jahren erstmals sein Prinzip "Klein sein oder nicht sein", das später als "small is beautiful" populär geworden ist. Die Lebensfähigkeit von überschaubaren Einheiten und Strukturen hat er nicht nur am Beispiel von Staaten sondern auch von Unternehmen und anderen Vereinigungen. Der Text ist trotz mancher zeitbedingter Details im Prinzip aktueller denn je. Zwischen England, Wales und Salzburg pendelnd unterstützte Kohr seit 1982 bis zu seinem Tod (1994) unser Begegnungszentrum freundschaftlich.

M.R.

Einigung durch Teilung

Leopold Kohr

26.9.1941

(Vom Autor ins Deutsche übersetzt)

Einigung durch Teilung wurde unter dem Titel "Disunion Now" vor einem halben Jahrhundert von der New Yorker linkskatholischen Zeitschrift "Commonweal" am 26. September 1941 veröffentlicht. Aus gewissen Gründen verwendete ich als Halbpseudonym den Namen meines Bruders Hans Kohr. Der Artikel war eine Antwort auf den damaligen Bestseller "Union Now" (Einigung Sofort) des amerikanischen Journalisten Clarence Streit.

Der Artikel war die erste Unterbreitung der "small-is-beautiful-Philosophie", die zehn Jahre später (1951) zur Verfassung meines in 1957 von Sir Herbert Read in London und New York (Verlag E.P.Dutton) herausgebrachten Buches "The Breakdown of Nations" *) (Das Ende der Grossen) führte. Das im Jahre 1973 veröffentlichte wahlverwandte und den Titel "Small is beautiful" tragende Buch meines Freundes E.F. Schuhmacher machte das Thema zu einem überall zitierten aber nie richtig akzeptierten Schlagwort.

Die Hauptidee des Artikels von 1941, der die Untertitel "Kantonale Souveränität" und "Die Glorie der Kleinheit" trug, schlug als einzig mögliche Friedens- und Einigungsbasis einer Pan-Europäischen Vereinigung die Nachkriegsaufteilung in ihre ursprüngliche politische Landschaften nicht nur Deutschlands sondern aller europäischen Großmächte vor, bevor sie als gleichmäßig harmlose Kleinstaaten in das Mosaik einer größeren Einheit in harmlose wieder zusammengefaßt werden können. Einer der Vorschläge betrifft die Organisation von regionalen Grenzgebietzusammenschlüssen, von denen einige - wie z.B. die Euregio auf beiden Seiten der Deutsch-Holländischen Grenze, deren Motto "Grenzüberschreitungszusammenarbeit" ist; oder die Organisation der Nachbarregion sowohl des östlichen wie auch des westlichen Alpenbogens - bereits existieren. Salzburg gehört zu beiden der Alpenbögen.

Der 50 Jahre alte Artikel des Commonweal ist unaufgebessert ins Deutsche übertragen. Heute gibt es 50 anstatt 48 Staaten in den USA; und nach der Schaffung des Jura Kantones 26 anstatt 25 souveräne Kantone und Halbkantone in der Schweiz.

Die meisten von uns glauben, daß das Elend, das die Welt befallen hat, darin liegt, daß sich die Menschheit in zu viele Staaten zersplittert hat. Deshalb sind auch die meisten von uns davon überzeugt, daß die einfachste Methode, dieses Übel abzuschaffen, darin liegt, die Vielheit der Staaten durch Einigung beiseite zu schaffen, angefangen mit Vereinigung der Demokratien, dann der Kontinente und letzten Endes der ganzen Welt. Die gewöhnlich zitierten Beispiele für die Möglichkeit solcher Unionen sind die Vereinigten Staaten und die Schweiz.

Was die Vereinigten Staaten anlangt, sind sie kein Modell, das auf Europa angewendet werden könnte, da sie keine Union verschiedener Einheiten darstellt. Es gibt keinen wirklichen Unterschied zwischen den Bevölkerungen, Sprachen, Rassen und Sitten, die in den verschiedenen Staaten leben. Es gibt nur ein Volk, das Amerikanische, das in den Vereinigten Staaten lebt, die einen Plural nur dem Namen nach darstellen. Die USA sind kein Land, sie ist ein Land. Die einzige Lehre, die sich daraus ziehen läßt, ist, daß, trotz der Einheitlichkeit des Types, den sie erzeugt hat, es verfassungsmäßig für sinnvoller und praktischer gehalten wurde, es in 48 Staaten unterteilen anstatt den ganzen Halbkontinent durch Delegierte von Washington her verwalten zu lassen. Das heißt: Differenzierungen wurden künstlich geschaffen, weil es sich als einfacher erwies, dadurch eine Union zu erzielen als durch zentralistische Unifizierung.

Ein besseres Beispiel für die Durchführbarkeit des Einigungstraumes der Unionisten im Fall des multinationalen Europas wo es weder den Einheitstypus eines kontinentalen Menschen, noch eine gemeinsame Sprache oder einen gemeinsamen kulturellen und historischen Hintergrund gibt, finden wir in der Schweiz. Dort, auf einem kleinen Gebiet mitten in den Alpen, leben drei traditionelle Erzfeinde - Italiener, Deutsche und Franzosen - in Freundschaftsverbänden zur gemeinsamen Förderung von Frieden, Freiheit und Wohlstand. Für die Unionisten ist die Schweiz das überzeugendste Modell für das realisierbare Zusammenleben verschiedener Nationen. Sie, nicht die USA, ist das heilige Land ihrer Ziele.

In Wirklichkeit beweist aber auch die Schweiz etwas radikal Verschiedenes von dem, was sie darzustellen scheint. Proportionell gesehen (wenn man von ihrer in Graubünden lebenden kleinen vierten Nation absieht) bestehen ihre drei nationalen Hauptgruppen aus ungefähr 70% deutsch-, 20% französisch- und 10% italienischsprechenden Eidgenossen. Wären diese drei nationalen Gruppen als solche die Basis ihrer weltberühmten Union, so hätte das auch in der Schweiz unaufhaltsam zu Vorherrschaft des grossen deutschsprachigen Blocks über die anderen Nationalitäten geführt und sie zum logischen Status von Minderheiten degradiert, da sie nur 30% der Gesamtbevölkerung darstellen. Tatsächlich würden gerade demokratische Prinzipien so eine Entwicklung fördern. Das Resultat wäre daher, daß jeder Grund für die französisch- und italienischsprechenden Volksgruppen weiterhin in einem vorwiegend deutschen Unternehmen zu bleiben, vollkommen wegfallen würde. Es gäbe nichts mehr, was sie von einem Anschluß an ihre Blutsverwandten auf der anderen Seite ihrer Grenzen abhalten könnte, die die mächtigen Nationen Italien und Frankreich geschaffen hatten. Noch würde es viel Sinn haben für die deutschsprachige Mehrheit weiterhin außerhalb der Grenzen ihres großen Nachbarreiches zu leben.

In Wirklichkeit liegt aber die Existenz der Schweiz und das erfolgreiche Zusammenleben verschiedener Volksgruppen nicht im Bündnis ihrer 3 oder 4 Nationalitäten sondern im Verband ihrer 25 Staaten (den Kantonen und Halbkantonen), was eine Aufteilung, nicht eine Fusion ihrer Volksgruppen darstellt und dadurch die unerläßliche Vorbedingung für jeden demokratischen Staatenbund bildet: das physische Gleichgewicht der teilnehmenden Gemeinschaften ihrer Bevölkerungszahlen.

Die Größe der Schweizer Staatsidee liegt daher in der Kleinheit der Zellen, auf deren souveränen Unabhängigkeit die Garantie ihrer Existenz ruht. Der Schweizer aus Genf steht dem Schweizer aus Zürich nicht als französischer einem deutschen Eidgenossen gegenüber, sondern als ein Eidgenosse aus der Republik Genf einem Eidgenossen aus der Republik Zürich. Ein Bürger aus dem deutschsprachigen Uri ist für einen Bürger aus dem deutschsprachigen Unterwalden genauso ein "Ausländer" wie für einen Bürger aus dem italienischsprechenden Tessin. Zwischen dem Kanton St. Gallen und dem Schweizer Staatenbund gibt es keine Zwischenorganisation in der Form eines deutschsprechenden Halbbundesstaates. Die an Bern abgetragene oder delegierte Staatgewalt stammt von den kleinen Kantonsrepubliken, nicht von den Nationalitäten, denn die Schweiz ist eine Union von Staaten, nicht von Nationen. Es ist wichtig, darüber im klaren zu sein, daß die Bevölkerung der Schweiz (in runden Zahlen) aus 700.000 Bernern, 650.000 Zürichern, 160.000 Genfern etc. besteht, und nicht aus 2,500.000 Deutschen, 1,000.000 Franzosen, und 500.000 Italienern. Die verhältnismaßig große Zahl von fast souveränen Kantonen und Halbkantonen zusammen mit der Kleinheit der einzelnen Kantonsbevölkerungen behindert das Aufkommen jeder imperialistischen Vorherrschaftsambitionen seitens eines Einzelkantons, da er zahlenmäßig auch schon von einer kleinen Kombination anderer Kantone übertroffen werden würde. Falls jemals im Zug der zeitgenössischen Vereinfachungs- und Rationalisierungstendenzen die 25 Kantonen mit all ihren Hauptstädten, Parlamenten, Regierungen und Eigenartigkeiten sprach- und stammeinheitlich reorganisiert werden sollten, so würden sie die Form von drei Provinzen annehmen: aber nicht der Schweiz sondern Deutschland, Frankreich und Italien.

Politiker, die für eine Vereinigung der Nationen Europas eintreten, weil sie der Ansicht sind, daß es diese Art von Vereinigung ist, deren Durchführbarkeit die Schweiz unter Beweis gestellt hat, haben bei all ihrem Enthusiasmus nie das schweizerische Urprinzip der kantonalen Kleinstaatenselbständigkeit in Betracht gezogen. Sie sind noch heute so von der Nationalidee beeindruckt, daß der Begriff Staat, der so viel biegsamer ist als der der Nation, von den Architekten der gegenwärtigen babylonischen Einheitstürme noch immer fast vollkommen außer acht gelassen wird. Das gesellschaftlich Erstrebenswerte sieht man mehr und mehr in großen und immer größer werdenden Einheiten, während kleinere Gemeinschaften als Brutstätte von Zwietracht, Hinterlist, Krieg und all der anderen Übel dargestellt werden, die am Anfang der Zeit aus der Büchse der Pandora entflohen sind. Schon von Kindheit an trichtern uns unsere Schulen die Ver-herrlichkeit des Großen, des Massiven, des Fleißigen, des Universalen, des Kolossalen ein, während sie einen Schleier darüber werfen, daß das gesellschaftliche wirklich Große, das Volkommendste, das Universalistische, im Kleinen liegt, dem Individuum, das das Protoplasma alles sozialen Lebens, ist. Wir bejubelen die Einigung Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens, und Italiens in der Annahme, daß sie der erste Schritt zu einer Einigung der ganzen Menschheit seien. Alles, was sie produzierten waren Großmächte, die sich ununterbrochen in den Haaren liegen.

Wenn das Schweizer Vorbild auf Europa ausgedehnt werden soll, dann muß auch die Schweizer Methode nachgeahmt werden, nicht nur der äußere Rahmen in ihrer multinationalen Gesamtstruktur. Und dieser liegt in der Teilung ihrer drei, oder jedweder Anzahl, von ungleich großen Blöcken in so viele kleinere Bestandteile als notwendig sind, um jedwedes zahlenmäßiges Übergewicht unmöglich zu machen. Was Europa anlangt, so heißt das, daß 40 oder 50 gleichgroße Staaten geschaffen werden sollen anstatt 4 oder 5 ungleich große. Anderenfalls wird auch ein föderativ geeinigtes Europa immer 80 Millionen Deutsche, 45 Millionen Franzosen, 50 Millionen Italiener etc. haben was letzten Endes genau so zur Hegemonie Deutschlands führen würde, wie Bismarck's föderativ geeintes Deutsches Reich, in dem 24 mittlere und Kleinstaaten mit der 40 Millionen starken Großmacht Preußen verbunden waren, mit der Hegemonie Preußens endete.

Mein Vorschlag liegt daher darin, Deutschland nach dem Krieg vorerst in eine Anzahl von Staaten von 7 bis 10 Millionen Einwohner aufzuteilen. Das wäre sehr leicht zu bewerkstelligen, da die früheren Deutschen Staaten (oder zumindestens ein großer Teil von ihnen) innerhalb ihrer alten Grenzen rekonstruiert werden können. Sogar Preußen würde eine Spaltung in seine historischen und natürlichen Landschaften zulassen.

Die Zersplitterung Deutschlands alleine hätte aber auf die Dauer keine Wirkung. Bei der natürlichen Tendenz aller organischen Zellstrukturen würde die einseitige Zersplitterung Deutschlands zur Wiedervereinigung führen, wenn nicht gleichzeitig auch ganz Europa kantonisiert würde. Ihr historischer Hintergrund würde so eine Aufteilung auch im Falle aller anderen Großmächte sehr vereinfachen. Wir würden wieder ein Venezien, eine Lombardei, ein Burgund, Savoyen, Estland, Weiß-Russland, eine Normandie etc. haben. Aber wie bei Deutschland würden auch in diesen anderen Fällen die neuen (oder alten) Kantonal- und Regional - wieder zu Nationalstaaten zusammenwachsen außer man regroupiert sie in begrenzte Lokalkombinationen weniger mit ihren Stammverwandten als mit ihren unmittelbaren geographisch verbundenen Nachbarstaaten, was die Reorganisation von großräumigen National- und Rassenstaaten unmöglich machen würde.

Mit anderen Worten, das wahre Schweizer Modell der nationalen Aufteilung anstatt Vereinigung müßte an verschiedenen europäischen Gegenden wiederholt werden, wie es seinerzeit schon in der Österreich-ungarischen Monarchie der Fall war. Das Resultat wäre die Zusammenfassung kleiner europäischer Staaten in einem Netz kleiner, schweiz-ähnlichen Staatenbunde, nicht zwischen Blutsverwandten sondern Grenznachbarn. Das würden ein Pommern-Westpolen, ein Ostpreussen-Baltikum, ein Kärnten-Venezien-Slovenien, ein Österreich-Ungarn-Tschecho-Slowakei, Baden-Burgund, Lombardei-Savoyen. Auf diese Weise würden die Großmächte, die die Gebärmütter jeden modernen Krieges sind, denn nur sie haben die Muskelkraft Kriegen ihre moderne Totalverwüstungsfähigkeit zu geben - endlich von der Bildoberfläche der Geschehnisse verschwinden. Aber nur wenn der ganze europäische Kontinent in seine ursprünglichen Teile zerlegt wird, ist es möglich, Deutschland oder irgend eine andere Großmacht ehrenvoll abzuschaffen, ohne es mit dem Odium eines neuen Versailles zu belasten. Sobald Europa in ein Kleinzellensystem umgewandelt ist, wird sich die Schweizer Grundlage nebenbei auch für eine Pan-Europäische Union ergeben, deren Erfolgsbasis nicht in der Zusammenarbeit mächtiger Nationen liegt, sondern, wie der menschliche Körper, ausschließlich in der Kleinheit all ihrer Staaten.

Das alles kommt auf eine Verteidigung, der vielbelachten Idee hinaus, die Glorie in der Souveränität nicht der größten sondern der kleinsten Staatseinheit sieht - Kleinstaaterei, wie man es in Deutschland nennt. Die politischen Theoretiker unserer Zeit, deren Augen nur das Große zu erfassen scheinen, und die sich an Sammelbegriffen wie "Menschheit" ereifern (niemand weiß, was sie eigentlich ist und warum man für sie sein Leben opfern soll), halten den bloßen Gedanken, mehr anstatt weniger Staaten zu schaffen, einen für einen Rückschritt ins Mittelalter. Sie alle sind für Einigung und Gigantismus obwohl Einigung über gewisse Grenzen hinaus nichts darstellt, als totalitäre Gleichschaltung, sogar wenn man in ihr eine Garantie des Friedens sieht. Was sie tatsächlich vorstellt, ist eine Übertragung in die internationale Arena des undemokratischen Einparteiensystem, das auch einen gewissen Frieden garantiert. Aber was für einen.

Trotz der Belustigung unserer Theoretiker möchte ich dennoch auf einige der Vorteile dieser "mittelalterlichen" Idee hinweisen. Der Einigungsfanatiker wird sagen, daß die Zeit, als es noch hunderte von Staaten gab, düster war und daß Kriege fast ohne Unterbrechung geführt wurden. Stimmt. Aber was für eine Art Kriege waren das? Der Herzog von Tirol erklärte dem Markgrafen von Bayern wegen eines gestohlenen Pferdes den Krieg. Der Krieg dauerte zwei Wochen. Es gab einen Toten und sechs Verwundete. Ein Dorf wurde erobert und der ganze Vorrat an Wein ausgetrunken, den man im Keller des Wirtshauses fand. Man schloß Frieden und bezahlte 35 Dollar zur Schadensgutmachung, und Nachbarstaaten wie das Fürstentum Liechtenstein oder das Fürsterzbistum Salzburg erfuhren nie, daß es überhaupt einen Krieg gegeben hatte. Kriege gab es natürlich in irgendeinem Winkel von Europa fast jeden Tag. Aber es gab keine Kettenreaktion und ihre Auswirkungen waren geringfügig. Heutzutage gibt es verhältnismäßig wenig Kriege und der Grund, warum sie ausbrechen, ist kaum seriöser als der Diebstahl eines Rosses. Aber die Konsequenzen sind katastrophal.

Auch wirtschaftlich waren die Vorteile der Ko-Existenz vieler Kleinstaaten beträchtlich, obwohl die modernen Gleichschalter, Fusionisten und Nationalökonomen nicht damit übereinstimmen, da sie sich daran gewöhnt haben, die Welt von der Perspektive des Kopfstandes zu sehen. Anstatt einer Regierung gab es zwanzig, anstatt zweihundert Parlamentarier gab es zweitausend, und anstatt der Ambitionen von wenigen konnten die Ambitionen von vielen befriedigt werden. Es gab wenige Arbeitslose, weil es zuviele gleichartige Betriebe, Berufe gab, die sich weniger Konkurrenz machten, weil sie in mehr Staaten lagen und ausgeübt wurden. Es bestand keine Notwendigkeit für die Einführung von Sozialismus (ebenfalls ein totalitärer Führerschaftsbegriff), weil die Wirtschaft eines kleinen Landes von jedem Kirchturm überschaut werden kann ohne die Interpretierung eines Marx oder Schacht (so brilliant sie auch sein mögen) herbeiziehen zu müssen.

Die vielen Hauptstädte übertrafen sich in der Förderung von Kunst und Kunstgewerbe, der Schaffung von Universitäten, Domen und Theatern, sowie in der Produktion von Dichtern, Denkern, Malern, Komponisten und Architekten. Und trotzdem war die Steuerbelastung der Bürger nicht größer als sie heute ist, im Zeitalter der Rationalisierung, das aus "wirtschaftlichen" Gründen soviele Betriebe und Menschen einspart, daß sie dadurch das vorher nie gekonnte Phänomen der Massenarbeitslosigkeit ins Leben rief. Wir haben die Verschwendung der Könige und ihrer Höfe abgeschafft und dadurch die Mittel in die Hand bekommen, um an ihrer Stelle militärische Pracht der marschierenden Millionen der Diktatoren finanzieren zu können.

Wir haben über die Vielheit der Kleinstaaten gelacht. Jetzt werden wir von ihren wenigen zu Großmächten angeschwollenen Nachfolgern tyrannisiert.

Es ist nicht nur die Geschichte sondern auch unsere eigene zeitgenössische Erfahrung, die uns gelehrt hat, daß die Demokratie in Europa oder sonst wo nur in kleinen Staaten blühen kann. Nur dort kann der Einzelmensch seinen Platz und seine Würde behaupten. Und solange wir die Demokratie für eine sinnvolle Institution halten, müssen wir auch, wieder die Bedingungen für ihre Entfaltung schaffen: den überdenkbaren kleinen Staat und die Glorie der Souveränität - anstatt eine Institution, die niemand aufgeben will, einzuschränken - auch der kleinsten staatlich lebensfähigen Gemeinschaft zuzuerkennen, und so vielen als möglich. Es wird leicht sein, dann diese kleinen Staaten unter das Dach eines kontinentalen Bundesstaates oder Staatenbundes zu bringen, was auch die befriedigen soll, die eine Geschmack für universalistische Verbundenheit haben. Ein Europa dieser Art wäre eine inspirierende Komposition und ein großartiges Gemälde, wenn auch nicht im modernen Stil, der sich mit einem einzigen langweiligen Strich zufrieden gibt. Es würde ein Mosaik mit faszinierenden Variationen in Detail und Eigenarten sein, aber trotzdem durchflutet von der Harmonie der organischen und lebendigen Ganzheit.

Das ist natürlich eine lächerliche Idee, zugeschnitten auf den Menschen als geistliche, lebhafte und individualistische Realität. Welteinigungspläne, dagegen, sind todernste Propositionen, humorlos und einem Menschentypen angepaßt, den man sich als ein Kollektivwesen vorstellt und als Vieh niederer Gattung; und sie erinnern mich mit all ihren seriösen Ausführungen immer an den Professor für Statistik, der dem Satan vorschlägt, wie er die Hölle organisieren soll. Worauf ihm Satan mit felsenerschütternden Gelächter zur Antwort gibt: "Die Hölle organisieren? Mein lieber Herr Professor! Organisation ist die Hölle."

Aus: "Rundbrief" (des Begegnungsuzentrums für aktive Gewaltlosigkeit, Bad Ischl) Nr. 63, 11/1991, S. 9-12

*) Neuedition 2001 von: Green Books, Dartington/ GB, £ 9.95, ISBN 1-870098-98-6, www.greenbooks.co.uk


(Put in the internet by M. Reichl 29.07.2002)

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