Offener Brief von Matthias Reichl an die Grünen vom 10.2.2003:

Speed kills - Die Grünen und die Politik generell!

Gegen die Neoliberalisierung der Politik in Österreich und weltweit!

Meine Befürchtungen - siehe meinen offenen Brief "Schwarz-grüne Koalition - ein "Harakiri" der GRÜNEN Partei" (von Dez. 2002) auf dieser homepage (www.begegnungszentrum.at/texte/reichl/reichl6-koalition.htm) - haben sich inzwischen bestätigt.

Die Koalitionsverhandlungen mit der ÖVP bedeutet eine weitere Etappe in der Neoliberalisierung der Grünen. (Van der Bellen vergaß im "Krone"-Interview v. 9.2.2003 das "neo-" vor seine Partei-Charakterisierung "als liberales, grünes, ökologisches Korrektiv" zu setzen! Und statt sich im Fernsehen Dokumentationen die Folgen der Globalisierung anzusehen, zieht er "Sex and the City" vor! )

Kann ein solches Verhandlungsteam bei einem eingeschworenen und bestens präparierten Gegenüber, wie es das ÖVP-Team ist, die nach wie vor gültigen Grundwerte der Grünen ("ökologisch, solidarisch, basisdemokratisch und gewaltfrei") durchsetzen. Angesichts des - nationalen und internationalen - Politdogmas neoliberaler "Reformen" (die ziemlich alle Politikbereiche umkrempeln) grenzt die Absichtserklärung, ein "Korrektiv" zu sein an Kapitulation vor dieser Wendepolitik und damit an Verrat an den Wählerinnen und Wählern, sowie an den sympathisierenden Nicht-mehr- oder Noch-nicht-Unterstützern.

Die - nicht als "Knackpunkte" erwähnten - Bereiche wie Neutralität und europäische Sicherheitspolitik (inkl. NATO), Bedenken an EU-interner Demokratiedemontage (Beispiel: Berlusconisierung) gegenüber eurer zur Schau getragenen EU-Phorie, der politischen Kräfteverschiebung zugunsten der Neoliberalen und Militaristen nach der "Osterweiterung" des EU-Parlaments und vieler anderer Probleme kommen in der politischen Auseinandersetzung mit der ÖVP praktisch nicht vor. Dabei vertritt die VP-Parteispitze - von Schüssel abwärts - für uns Positionen und Allianzen, die auch durch ein grünes "Korrektiv" nicht akzeptabel werden.

Ein Innenminister Strasser, der mit seinem schwarz-blauen Beamtenapparat den Ausverkauf von Bürgerrechten an gutzahlende Neoliberale forciert, illustriert treffend die Gefahr (ebenso der von Militärs durchsetzte "Staatsschutzapparat"). Der zunehmend einflussreiche und durch Verordnungen am Parlament vorbei abgesegnete Beamtenapparat (in allen Ministerien!) kann - im Zusammenwirken mit neoliberalen, privaten Lobbies- seine Art von "modernisierter" Staatsgewalt weiter ausbauen.

Dies sind nur einige wenige Beispiele. Für mich - und für viele ähnlich Engagierte - ist die offensichtliche Bagatellisierung der Gefahren und die mangelhafte Unterstützung von Seiten der grünen Parteispitze ein Warnsignal, dem wir verstärkt ausserparlamentarischen Druck und gewaltfreien Widerstand entgegensetzen müssen - persönlich als auch durch Gemeinschaftsinitiativen (wie u.a. das Österreichische Soziale Forum). Eine Konsequenz könnte auch ein Überdenken der Wahlentscheidung sein).

Ich - und viele meiner Bekannten - hoffen auf die kritische Einsicht der Parteispitze, vor allem aber der Parteibasis und seiner Delegierten (ich selbst bin kein Parteimitglied), die eine katastrophale Fehlentwicklung der Grünen rechtzeitig stoppen können. Diesen kritischen Teil werde ich auch weiterhin nach meinen Möglichkeiten aktiv unterstützen.

Matthias Reichl, Wolfgangerstr. 26, 4820 Bad Ischl, e-mail: info @ begegnungszentrum.at

P.S. vom 15.2.2003:

Einige wenige Mitarbeiter der Grünen hatten den Mut, meine Bedenken per e-mail bzw. mündlich mit mir zu teilen. Die grünen Hauptakteure schwiegen und redeten dafür umso mehr mit jenen in der ÖVP, deren Politik sie bis vor kurzem noch wortgewaltig verurteilten. Nun loben sie sich gegenseitig um sich und uns darüber hinwegzutäuschen, dass sie in Meinungsumfragen seit langem unten durch sind und sich darüber streiten, wer das kleinere Übel ist.

Put in the internet by M. Reichl 15.02.03

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