Gemütsfaschismus und Technofaschismus
Robert Jungk
Es ist eines der großen Verdienste des Seelenforschers Wilhelm Reich,
daß er 1934 angesichts der Machtergreifung des Nationalsozialismus nicht
nur wirtschaftliche und nationale Bedrängnisse für den Erfolg des
"Führers" verantwortlich machte, sondern auch seelische Defizite,
die der "Retter" Adolf Hitler auszugleichen versprach.
Wenn heute im Zeichen ökonomischer Hochkonjunktur Vertreter faschistischer
oder faschistisch beeinflußter Programme Zulauf erhalten, dann sollte
man sich an diese - vor allem von der Linken - zu wenig beachteten Erkenntnisse
über die "Massenspychologie des Faschismus" erinnern. Weiter
verbreitet noch als die durch Rationalisierung und rücksichtslose Strukturveränderungen
bewirkte materielle Arbeitslosigkeit ist meiner Ansicht nach die "seelische
Arbeitslosigkeit" von Millionen, die in der von Technokraten verwalteten
Konsumgesellschaft weder Lebenssinn noch Möglichkeiten eines sie erfüllenden
Engagements entdecken. Desillusion und Resignation beherrschen die Stunde. Wer
auf überzeugende Weise dem entgegenarbeitet, indem er an Selbstbewußtsein,
unterdrückte Wut und so etwas wie einen Gemeinschaftsgeist appelliert,
gewinnt Anhänger. Sie brauchen Begeisterung, sei sie auch irregeleitet,
dringender als Brot.
In "Player piano", einem Science-fiction-Roman von Kurt Vonnegut,
der kurz nach dem Krieg erschien, schildert er das Leben der Menschen in einer
hochtechnisierten, vollautomatisierten Gesellschaft der nahen Zukunft. Tagsüber
müssen sie sich den Zwängen der "großen Maschine"
unterwerfen, die anonyme, austauschbare Bestandteile aus ihnen gemacht hat,
am Abend und in der Nacht aber können sie sich in den romantischen Slums
der Städte ausleben. Da dürfen diejenigen, die stundenlang schweigen
und den Ärger herunterschlucken müssen, sich austoben. Die Präzision
und Disziplin der Arbeitsstunden ist jetzt nicht gefragt. Schreien, Toben, brüllendes
Lachen, ja auch Schluchzen sind nicht nur gestattet, sondern als die nunmehr
passende Verhaltensweise verlangt.
Wer je eine Versammlung der Anhänger Le Pens, eine der biergeschwängerten
Massenversammlungen zu Füßen von Franz Josef Strauß oder dem
"neuen Franz" Schönhuber erlebt hat, weiß, wie hoch da
die Gefühle gingen und gehen. Da fühlt sich niemand mehr einsam, unterdrückt,
zum vernünftigen Tun vergattert, sondern als Teil einer singenden, brüllenden,
klatschenden Gemeinschaft von Patrioten, die ihren "Mann" stehen und
von einer weisungsgebenden Figur auf den Heilsweg geführt werden. Und am
nächsten Tag? Da werden sie wieder zu grauen Mäusen, zu gehorsamen
Bürokraten, folgsamen Angestellten, fleißigen Lohnbeziehern. Genau
wie das Management sich seine Hand- und Kopflanger wünscht. Der Gemütsfaschismus,
den die Neuen Rechten zum politisch ernstzunehmenden Faktor gemacht haben, korrespondiert
exakt mit dem Technofaschismus der Industriegesellschaft, indem er kompensatorisch
befriedigt, was im kalten, rationalen, entfremdeten Alltag der Produktionsuntertanen
und ihrer anonymen Manager vernachlässigt wird.
War es denn unter Hitler und Mussolini sehr viel anders? Sie wurden auf Wogen
des Sentiments nach oben gespült, um dann dort die Begeisterung ihrer Gefolgschaft
als Gegenleistung für ihre Beteiligung an der Macht der Großkonzerne
einzubringen. Speer, der die Aufrüstung organisierte und die Todesproduktion
des Krieges so perfekt verwaltete, daß das objektiv viel schwächere
Dritte Reich sich jahrelang gegen eine ökonomisch, technisch und demographisch
weit überlegene Allianz halten konnte, war die andere, viel zu wenig beachtete
Führerfigur des deutschen Faschismus.
Es ist kein Zufall, daß viele der Gründerpersönlichkeiten
der nach dem Zusammenbruch glänzend wiederauferstandenen deutschen Wirtschaft
das "Führen" und Organisieren in den Massenorganisationen der
Partei und des Heeres erlernt hatten. Ähnliches trifft unter etwas veränderten
Vorzeichen für die Managerelite der USA, Großbritanniens, Frankreichs,
Italiens und vor allem Japans zu, wo militärische Tugenden als Voraussetzung
erfolgreicher Unternehmensführung offen anerkannt werden. Die Technofaschisten
haben allerdings begriffen, daß Uniformen und militärische Umgangsformen
von der Mehrheit der Nachkriegsgeneration abgelehnt werden. So geben sie sich
äußerlich zivil, vernünftig, ja sogar freundlich lächelnd.
Über die harte Faust des Herrschers wird der Samt demokratischer Umgangsformen
gestülpt, aber wirkliche Demokratie, echtes Mitspracherecht wird auch den
Abhängigen der High-Tech-Gesellschaft verweigert.
Gegen diese Entwicklung, die dem einzelnen immer weniger Möglichkeit
gibt, seine individuelle Persönlichkeit durchzusetzen, und ihn zum Mitmacher,
ja zum Mitschuldigen an einer auf künftige Katastrophen hinsteuernde Entwicklung
macht, haben die neuen sozialen Bewegungen der letzten zwanzig Jahre gekämpft
und zunehmend Anhänger gewonnen. Ihre zunehmend techno-kritische, antikapitalistische
Haltung muß den Technokraten Sorgen bereiten. Nachdem sie die Arbeiterbewegung
durch Beteiligung an der ökologischen und imperialistischen Ausbeutung
der Welt korrumpiert und weitgehend ruhiggestellt hatten, mußten sie gegen
die Herausforderungen der Studentenbewegung, Ökobewegung, Friedensbewegung,
Frauenbewegung, Arbeitslosenbewegung eine politische Bewegung finden, die nicht
nur den Wirtschaftsinteressen nützen, sondern auch die Gemüter der
von Zweifeln, Angst, Unsicherheit Bedrängte gefangennehmen könnte.
In den neuen faschistischen Bewegungen haben sie nun so etwas entdeckt, und
es steht zu erwarten, daß die Mächtigen nach anfänglichen Zweifeln
(wie sie übrigens zunächst auch gegen die Nazis bestanden) den neuen
"Führern" genügende Finanzmittel zur Verfügung stellen
werden, damit sie die vom Technofaschismus um ihre Persönlichkeitskräfte
Gebrachten über den Gemütsfaschismus erneut gleichschalten. Während
sie selbst, die wahren "Führer", anonym bleiben, dürfen
populäre Massenredner und Agitatoren deutlich hervortreten, Sympathien
gewinnen und die Bürger von ihren wirklichen Interessen ablenken.
Ein wirksamer Kampf gegen den Gemütsfaschismus verlangt die kritische
Aufdeckung der Macht, die der Technofaschismus heute schon in Arbeits- und Konsumwelt
übt. Doch dazu müßte noch etwas Wichtigeres kommen: Die Gegner
des Technofaschismus, die Grünen und die Linken, müssen sich darum
bemühen, den Bürgern nicht nur materielle oder ökologische Verbesserungen
anzubieten, sondern die Visionen einer humanen Gesellschaft, für die sich
die Menschen begeistern können. Mit "Brüder, zu Sonne, zur Freiheit"
hat die Arbeiterbewegung Millionen in Bewegung gebracht. Mit Tarif- und Lohnkämpfen
allein können die Herzen der Menschen nicht gewonnen werden. Wer den "Wärmestrom"
des Sozialismus versiegen läßt, kann nicht hoffen, denen, die mit
der "heißen Luft" eines verquasten Patriotismus falsche Wärme
vortäuschen, erfolgreich Widerstand zu leisten.
Erfolgversprechender Antifaschismus darf die Emotionen der Menschen nicht
vernachlässigen. Sie auf ernstzunehmende und ehrliche Weise anzusprechen
und politisch einzusetzen, ist die Aufgabe einer nicht nur soziologisch, sondern
auch psychologisch denkenden neuen politischen Generation, die lesen und diskutieren,
aber auch zuhören und mit den Menschen sprechen kann. Nur so werden wir
dem neuen Faschismus widerstehen und ihn überwinden.
Vorwort in: Die Rückkehr der Führer. Modernisierter Rechtsradikalismus in Westeuropa. Hg. v. M. Kirfell/ W. Oswalt. Europaverlag, Wien 1991, S. 7ff.
Abgedruckt in: Robert Jungk: "...damit wir nicht untergehen...". Ausgewählt u. herausgegeben von Matthias Reichl. Edition Sandkorn, Linz, 1992, S. 120ff.
Erhältlich nur bei: Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit,
Wolfgangerstr. 26, A-4820 Bad Ischl, Tel. 06132-24590, e-mail: info @ begegnungszentrum.at,
www.begegnungszentrum.at
Weitere Informationen in der Homepage der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen, Salzburg:
http://www.jungk-bibliothek.at
Nachbemerkung von Matthias Reichl:
Robert Jungk wurde am 5.4.1992 - als parteifreier Kandidat der österreichischen
Grünen für das Amt des Bundespräsidenten - knapp vor der Wahl
das Opfer einer Politiklüge aus der rechten Ecke. Jörg Haider, führender
Kopf der FPÖ, beschuldigte Jungk, daß dieser Anfang der 40er Jahre
in Artikeln für die schweizerische Zeitung "Weltwoche" das "Dritte
Reich" Hitlers gelobt hätte. Haider im Fernsehinterview des ORF: "Also
eine Jubelbroschüre fürs Dritte Reich vom Herrn Jungk, Präsidentschaftskandidat
einer Partei, die immer so tut, als wäre sie jenseits des Verdachts, irgendwelche
faschistische Züge zu haben." Bis der Oberste Gerichtshof die Forderungen
Jungks voll bestätigte, Haider müsse diese falschen Behauptungen widerrufen,
war die Wahl längst vorbei. Und in den Medien war das Echo auf den halbherzigen
Widerruf mager.
(Published on the internet by Matthias Reichl 10.01.2007 ergänzt 06.07.2016)
siehe auch Robert Jungk - als Mut-Macher und Die Analphabetendemokratie