Die Analphabetendemokratie. Ein Ausweg. (1986)
Robert Jungk
(Auszüge)
Wenn einer, der des
Schreibens unkundig ist, einen Vertrag unterzeichnen soll, gibt man
sich in den sogenannten unterentwickelten Ländern der Erde mit einem
Fingerabdruck zufrieden. Bei der Wahl wird noch weniger verlangt: Ein
schlichtes Kreuz genügt da schon . So werden bei dieser feierlichen
Gelegenheit Millionen großjähriger Bürger auf dem Niveau des
Analphabetismus hinuntergestuft. Die meisten von ihnen wären zwar
imstande, ihre Ansichten und Wünsche genau auszudrücken. Aber man
bietet ihnen nur diese primitive Form der Meinungsäußerung. So
verkümmert die Demokratie zu einer Republik der Sprachlosen, die
Mitbestimmung zur undifferenzierten Zustimmung derer, die am
Wahlabend sich in den Resultaten nur als anonyme Bestandteile von
Prozentzahlen repräsentiert sehen.
Meine
wichtigste Forderung: Erfindet neue Institutionen, die es den Bürgern endlich
möglich machen, mitzudenken, mitzureden, mitzugestalten. Schafft auf
allen Ebenen, in den Gemeinden, in den Ländern, in der Republik,
Gelegenheiten zu ständiger direkter Beteiligung des Volkes: Tausende
Foren und Werkstätten, in denen Kritik geübt und Vorschläge
gemacht werden können. Die Parteien - alle miteinander - sind dafür
viel zu eng geworden. Sie kassieren Stimmen, aber hören nicht auf
sie. Ihre Repräsentanten haben bis auf Ausnahmen den wirklichen
Kontakt zu den Wählern verloren. Den Lobbies und Experten leihen sie
ihr Ohr. Den Mann und die Frau "von der Straße" nehmen
sie
nicht ernst, weil denen, wie sie meinen, Wissen und Durchblick
fehlen. Und in der Tat: Die Betroffenen werden zwar mit Lawinen
zweit- und drittrangiger Informationen überschüttet, aber die
wirklich wichtigen Vorhaben der Entscheider erfahren sie meist erst,
wenn es schon zu spät ist, noch etwas daran zu ändern...
Der „freieste
Rundfunk der Welt“ wird ... immer vorsichtiger. Leisetreterei und
Liebedienerei werden zwar nicht verlangt, empfehlen sich aber den
Karrierebewußten als die einzig erfolgversprechenden
Verhaltensweisen. An Hochschulen und Fachschulen haben die
Studierenden längst begriffen, daß sie nicht erst nach dem Abschluß
auf Jobsuche gehen sollten, sondern sich rechtzeitig mit den in den
Ausbildungsbetrieb eingeschleusten Industrievertretern gut stellen
müssen. „Schweigen ist Gold“, heißt es in vielen Betrieben. Nur
nicht nörgeln, nur nicht auffallen.
So haben sich
allmählich Verhaltensweisen herangebildet, die an totalitäre
Gesellschaften erinnern. Man spricht mit zwei Zungen, man denkt mit
zwei Köpfen. Konsum macht glücklich. Passivität erspart
Anstrengungen. Schön folgsam sein und bleiben.
Die Reformpädagogik
hat da erst wenig verändert. Noch immer stellen die Schulen
überwiegend Gehorsam her, noch immer wird den Autoritäten, denen
„da oben“, mehr vertraut als eigener Beobachtung, selbständigem
Urteil.Stünde ich in
politischer Verantwortung, dann würde ich auf allen Gebieten des
Lebens versuchen, die kreativen, die kritischen Fähigkeiten der
Bürger und damit ihr Selbstbewußtsein zu fördern. Von frühester
Jugend an sollten sie befähigt werden, zu erkennen, wo die
wirklichen Bedürfnisse und Interessen der Menschen liegen...
Politikern heutigen
Schlages erscheinen derartigen humane Forderungen utopisch, weil sie
sich nicht vorstellen können, wie viele Kräfte eine Politik
mobilisieren könnte, die nicht länger nur im Dienste begrenzter
Machtinteressen steht, sondern den Bürgern das Gefühl gibt, daß
Ziele gesetzt werden, die in ihrem Interesse sind, daß
Voraussetzungen geschaffen werden, die eine Verwirklichung solcher
Hoffnungen ermöglichen.
Gerade weil in
unserer Zeit die Gefahren so gewaltig gewachsen sind und immer mehr
Menschen begreifen, daß ihnen Katastrophen nie gekannten Ausmaßes
bevorstehen, falls der alte Kurs „weiter so“ durchgehalten wird,
steigt zumindest bei den Aktiven die Bereitschaft zu radikal neuer
Politik.
Sie sollte den Mut
zum Träumen mit der Förderung des Wissens und Könnens von
Millionen zur Zeit noch vernachlässigter Mitbürger verbinden. Mehr
Phantasie und viel mehr Informationen sind notwendig, um die
kommenden Krisen zu meistern...
Robert Jungk: Die Analphabetendemokratie. Ein Ausweg. (1986). Aus: Robert Jungk: „...damit wir nicht untergehen...“ Hrsg. von Matthias Reichl, edition sandkorn, 1992, S. 102 - 105.
(Published on the internet by M. Reichl 6.7.2016 )
siehe auch Gemütsfaschismus und Technofaschismus und Robert Jungk - als Mut-Macher