Sinn des Lebens

José Lutzenberger

Wenn man mich fragt, "was ist der Sinn des Lebens?", und ich suche rein vernunftmäßig, naturwissenschaftlich, nach einer Erklärung, dann weiß ich zunächst keine befriedigende Antwort. Ich muß ja dann der Sache auf den Grund gehen, muß mir die gesamte kosmische und biologische Entwicklung vorstellen, vom Urknall - falls es den überhaupt gegeben hat, es ist ja zunächst nur Spekulation, und davor, falls es ein Davor gegeben hat - bis zum Leben auf unserem Planeten, bis zu unserem Leben heute, die Milliarden Jahre davor und die Milliarden Jahre danach.

Wenn wieder Milliarden von Jahren vergangen sind, vom Leben auf unserem Planeten keine Spuren mehr vorhanden sind, weil die Sonne in ihrer letzten Entwicklungsphase, wenn sie zum Roten Riesen wird, bevor sie zu einem Weißen Zwerg zusammen schrumpft, in ihrer Ausdehnung bis fast hin zur Bahn von Mars, die Erde schluckt, diese sich in der glühenden Gaswolke auflöst, was hat dann die ganze Organische Entwicklung mit ihren Millionen von Arten und Billionen von Individuen für einen Sinn gehabt? Ist aber eine solche Frage überhaupt sinnvoll? Hat es Sinn auf dieser Ebene nach Sinn zu fragen?

Das ist aber trotzdem alles unfaßbar faszinierend, daher einfach schön.

Konzentrieren wir aber unsere Aufmerksamkeit mehr gefühlsmäßig auf den im obigen Kontext winzigen Augenblick, der die Zeitspanne unserer Existenz als Art, dann als Zivilisation ausmacht und auf den noch winzigeren Augenblick unseres bewußten Lebens als Einzelmensch, und fragt man mich dann, welchen Sinn ich in meinem persönlichen Leben sehe, was ich daraus mache? Dann weiß ich nicht, wo ich anfangen soll. Ich habe ein langes Leben hinter mir - drei Viertel Jahrhundert. All die Erinnerungen an Erlebnisse, Erkenntnisse, all die Gefühle, gute und schlechte Erfahrungen, Erfolge und Fehler.

Aber was ist das alles? Solche Fragen zwingen ja auch, tiefer zu gehen, eigentlich noch tiefer. Das hat doch mit Leben ganz allgemein zu tun, mit dem einmaligen Prozeß des Lebens auf unserem Planeten. Aber was ist Leben? Ein völlig lebloser Kosmos und ein absolutes Nichts, wären nicht zu unterscheiden. Wer könnte da unterscheiden?

Die einfältige Antwort, "ist alles von Gott geschaffen", kann einen wahrhaftig neugierigen Geist nicht befriedigen. Das verschiebt ja das Große Geheimnis nur weiter zurück und setzt dann eine Denkschranke. Man soll ja dann nicht weiter fragen - was, wer ist dieser Gott, woher kommt er, und wie weit beherrscht er, lenkt er das alles? "Kein Blättchen fällt vom Baum..." Wenn dem aber so wäre, müßte er ja schrecklich sadistisch sein, bei all dem Elend, Leid, Terror und Verwüstung, die er zuläßt. Und warum soll er sich gerade um diese eine Art besonders kümmern, eine unter Millionen von anderen Arten, um uns Menschen, auf diesem winzigen Sandkörnchen, einem Planeten unter mehreren, eines Sternes unter Hunderten von Milliarden anderen, in einer Galaxie unter Hunderten von Milliarden anderen.

Oder hat er nur die Naturgesetze geschaffen, so daß sich alles von selbst entwickelt und von selbst regelt? Dann sind die Naturgesetze selbst das große Geheimnis. Warum sind sie so, wie sie sind und nicht anders? Das werden wir wohl nie ergründen. Da kann man nur, und muß man ganz bescheiden, ehrfürchtig staunen. Wenn die eine oder andere der Konstanten der Physik anders wäre, der ganze Kosmos wäre anders. Oder wenn auch nur das Wasser normalere physikalische Eigenschaften hätte, wenn es wie praktisch alle anderen Substanzen beim Gefrieren nicht leichter, sondern Schwerer würde. Eis würde nicht schwimmen, die Ozeane wären schon am Anfang der Erdgeschichte von unten nach oben zugefroren, ein völlig weißer Planet wäre, wegen des hohen Albedos (Reflektivität, Rückstrahlung) nicht mehr aufgetaut. Wir wären alle nicht da um diese Fragen zu stellen.

Daher halte ich mich lieber gleich an das größte Abenteuer des Menschlichen Geistes, an die Naturwissenschaft, an die systematische Suche nach diesen Gesetzen. An den sauberen, absolut aufrichtigen, das heißt betrugfreien Dialog mit diesem Großen Geheimnis. Die Naturwissenschaft gibt uns zwar nie endgültige Erklärungen und jede neue Erklärung wirft weitere, immer tiefer gehende Fragen auf, auch immer größere Geheimnisse aber man kommt voran. Die Naturwissenschaft stellt ihre erarbeiteten Erklärungen immer wieder in Frage, sie korrigiert sich selbst immerfort. So wird das große logische Gebäude immer konsistenter. Wo immer es nicht reimt, wird weiter gesucht, bis zur Aufgabe ganzer Paradigmen, das heißt ganzer Denkstrukturen und der Suche nach neuen, noch besser die Fakten erklärenden Sichtweisen.

So war es mit Einsteins Relativität und so war es mit der Quantenmechanik, in der Geologie, usw. So ist es mit der Ökologie und so muß es unbedingt sehr bald kommen in dem, was sich heute Volkswirtschaft oder Wirtschaftswissenschaften, oder Ökonomie nennt. Das ist ja keine Wissenschaft, sondern eine inzwischen zum Dogma gewordene Doktrin welche den Regierungen und der Gesellschaft absurde, selbstmörderische Verhaltensweisen diktiert.

Es wird immer wieder behauptet, Naturwissenschaft sei wertfrei. Das kann doch nicht stimmen. Sie ist doch ein Wert an sich. Die Entscheidung, auf der sie basiert, der saubere Dialog mit der Natur ist doch eine ethische Entscheidung, und das ehrfurchtvolle Staunen ist doch zutiefst gefühlsmäßig. Das ist doch nicht anders, als Religion, aber total diszipliniert und selbstlos. Zumindest sollte Wissenschaft so sein. Das herrschende wissenschaftlich-technische Establishment sieht es leider anders.

Was die Naturwissenschaft auf diese Weise erarbeitet wird immer faszinierender, immer hinreißender. Es ist einfach überwältigend, was wir Menschen schon entschlüsselt haben, welche Wunder wir schon schauen können.

Wenn man sich in Naturwissenschaften einigermaßen auskennt, wenn man, wie ich das seit meiner frühesten Jugend tat und bis zu meinem letzten Tag tun werde, immer weiter am Ausbau seines naturwissenschaftlichen Horizonts arbeitet, auch versucht, die vorherrschenden Techniken und technologischen Infrastrukturen einigermaßen zu verstehen und das Ganze philosophisch und ethisch betrachtet, dann kommt man aus dem Stauen nicht heraus.

Da ich mich sehr früh in meinem Leben dafür interessierte, habe ich einige dieser großen Abenteuer Schritt für Schritt und bewußt verfolgen können, ich kann fast sagen, miterleben können. Darunter:

. Die Entwicklung der Genetik, von Mendel, wie ich ihn in der Schule gelernt hatte, über die klassische Genetik von Thomas Hunt Morgan und von da bis zur Molekulargenetik und dann zur jetzigen - man muß leider sagen - Perversion, basierend auf der Patentierung von Lebewesen, Teilen von Lebewesen und Prozessen des Lebens. Die heutige technokratische Macht nennt sie "the life sciences" statt ganz aufrichtig zu sagen "life commerce", das Geschäft mit Leben.

. Die moderne Astronomie und Kosmologie, die uns die gewaltigen Perspektiven und unvorstellbaren Größenordnungen in Raum und Zeit eröffnet haben, ermöglicht durch die immer gewaltigeren Teleskope, einschließlich solcher, die im Raum stationiert um die Erde kreisen, basierend auch auf immer tiefer gehenden Kenntnissen in Kern- und Teilchenphysik, mit den immer potenteren Teilchenbeschleunigern. Die Kernphysik hat uns allerdings auch die schreckliche Atombombe und die unanständigen Atommeiler beschert, für deren Abfälle Hunderte von Generationen nach uns noch leiden und bezahlen werden.

. Die Raumfahrt mit ihren unbemannten Fähren, die uns heute die Planeten und deren Monde im Sonnensystem zeigen, wie man sich das noch zur Zeit meiner Jugend nicht vorstellen konnte, was uns die Einmaligkeit unseres Juwels, Gaia, die Erde, erst richtig bewußt macht.

. Die Plattentektonik und Kontinentalverschiebung, die eine vor einem Halben Jahrhundert noch unvorstellbare Ordnung in die Geologie als Ganzes brachte.

. Der immer weitere Ausbau des großen Panoramas der Organischen Entwicklung und die holistische, ökologische Sicht des Lebens, die nun die Entwicklung in ein anders Licht stellt. Es geht nicht um den Kampf aller gegen alle, "the struggle for life", sondern um eine immer perfektere Eingliederung in das Ganze. Ein Kampf aller gegen alle hätte doch, durch das sukzessive Aussterben der Schwächeren, zu immer mehr Vereinfachung geführt. Wir haben aber doch das Gegenteil, es hat zu immer fantastischerer Artenvielfalt geführt. So verstehen wir heute, daß die Erde insgesamt ein lebendiges System ist, ein großes homöostatisches, sich selbst regulierendes, geo-bio-physiologisches System.

Aus dieser Sicht ergibt sich der Name Gaia, als ein nicht rein technischer, sondern eher gefühlsmäßiger Name und die sich daraus für uns Menschen und jeden Einzelnen ergebende Verantwortung. Der symphonische Prozess der Organischen Entwicklung aus dem wir Menschen, gemeinsam mit Millionen anderer Arten hervorgegangen sind, ist doch etwas unwahrscheinlich wunderbares. Mit unserer bewußten Vernunft haben wir die Möglichkeit der Mitwirkung, wie sie kein anderes unserer Mitgeschöpfe hat. Davon ausgehend können wir nun eine wirklich sinnvoll vernünftige Ethik ableiten.

Im Gegensatz zur Wissenschaft geht es aber in der Technik, nicht um Schauen, um ehrfürchtiges Staunen, es geht um durchsetzen von Willen. Die Technik nutz die Information, welche die Wissenschaft erarbeitet hat, um Artefakte, Instrumente, zu machen. Da ist jede Form von Betrug möglich, wie z. B. geplante Veralterung, betrügerische Reklame und irreführende Verpackung, sinnlose Naturzerstörung und dergleichen mehr.

Daher dürfen wir nicht jede neue Technik, schon gar nicht die mit ihr errichteten techno-bürokratisch-, gesetzlich verankerten Infrastrukturen, woraus sich dann die unüberwindbaren Sachzwänge entwickeln, blindlings akzeptieren, wie z. B. das genmanipulierte Saatgut in der Landwirtschaft, welches die Monopolisierung der Kultivare bezweckt und ähnliche Perversionen. In der Technik müssen wir uns immer fragen, wem dient sie, wer zahlt die Kosten, die sozialen für die heutigen und die zukünftigen Generationen und welche Umweltkosten bringen sie mit sich?

So will ich in der Technik, als Teil der vielen persönlichen Erlebnisse, nur die Entwicklung von der Dampfmaschine mit ihren tollen Lokomotiven, die uns als kleine Jungen besonders begeisterten, über den Otto- und Dieselmotor bis hin zu Raketen und jetzt der Brennstoffzelle erwähnen; sowie die Elektrotechnik mit mechanischen Schaltern, über einfache Elektronik mit Vakuumröhren und von Hand gelöteten Kreisen, über die vorgedruckten Kreise, dann den Transistor, bis hin zum Chip und den großen Superrechnern, aber auch die kleinen für den persönlichen Gebrauch, wie dieser, auf dem ich jetzt schreibe, eine phantastische Erleichterung gegenüber auch meiner letzten, elektrischen, Schreibmaschine, wo ich oft Dutzende von Seiten wegen kleiner Korrekturen oder Änderungen neu tippen mußte.

Diese Rechner, und was sie nun in Wissenschaft, Technik und Verwaltung ermöglichen, sind ja nun eine wirklich vor wenigen Jahrzehnten unvorstellbare Revolution. Bergen sie mehr Gefahren, als Vorteile, mehr zentrale Herrschaft oder mehr persönliche Selbstbestimmung? Wir wissen es noch nicht. Eine neue Abhängigkeit sind sie bereits. So, wie wir ohne Auto nicht mehr auskommen, kommen wir ohne diese Dinger nicht mehr klar.

Aber, die Zivilisation in der wir heute leben, besonders ihr letzter degenerativer Auswuchs, genannt, Konsumgesellschaft, befindet sich auf einem selbstmörderischen Pfad. Wir benehmen uns auf Gaia wie ein Krebsgeschwür, das bereits Tausende von Metastasen streut. Warum ist dies den meisten Menschen in ihrem alltäglichen Handeln nicht bewusst oder nicht in ausschlaggebender Form präsent? Dabei zwingt uns doch dieses Wissen, schon als Einzelne, verantwortungsbewußt zu leben.

In meiner Kindheit hat man mir das anthropozentrisch-christliche Weltbild eingetrichtert. Davon habe ich mich schon, als kaum Vierzehn- oder Fünfzehnjähriger befreit, als ich auch nur die ersten Seiten meiner Astronomie- und Biologiebücher öffnete.

So war für mich mein Leben lang mein höchster geistiger Genuß das Teilhaben am größten Abenteuer des Menschlichen Geistes, aber auch die Aufregung über das heutige zerstörerische Verhalten unserer globalen industriellen Zivilisation. Daher wurde ich zum Aktivisten in Umwelt und Ökologie.

Kurzgefaßt, ist für mich der Sinn des Lebens identisch mit meiner Definition von Naturwissenschaft: Naturwissenschaft ist das ehrfürchtige, andächtige Schauen der göttlichen Schönheit des Universums. Und tiefste Spiritualität, Ethik, ist für mich das Bewußtsein, als winziges Teilchen des großen Geheimnisses an der Erhaltung seiner Schönheit mitwirken zu können und zu wollen.

August 2001

(Published on the internet by Maria Reichl 6. 6. 2002)
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