lutzenberger3-bauern und eu
DIE ABSCHAFFUNG DER BAUERN - EIN GLOBALER SELBSTMORD
und
LUTZENBERGERS WARNUNG VOR DEM MARKT DER EU
Am 4. Oktober 1993 fand in Bangalore, Indien, vor der Eröff- nung eines
Bauernkongresses eine Demonstration statt, an der über eine halbe Million
Bauern aus Südostasien teilnahmen. Sie kamen aus Indien, Pakistan, Bangladesh,
Taiwan, China, Thailand, Kam- bodscha, Laos, Vietnam, Philippinen und Indonesien
sowie Neu-Gui- nea. Vertreter aus Lateinamerika waren auch dabei. Protestiert
wurde gegen die Weltbank, gegen GATT, WTO, IWF und Biotechnologie. Gefordert
wurde eine nachhaltige, organische Landwirtschaft. Die Weltpresse hat dieses
Ereignis kaum zur Kenntnis genommen.
In Mexiko schwelt immer noch der Aufstand der Bauern in Chiapas. Die Regierung
redet von Terroristen. Es sind aber Indianer mit uralter Bauerntradition aus
Maya- und Aztekenzeiten. Sie kämpfen gegen die NAFTA, den nordamerikanischen
Gemeinsamen Markt.
Die Globalisierung der Wirtschaft, wie sie von der Weltbank, dem Allgemeinen
Abkommen für Handel und Zölle, von der Welthandelsorganisation, vom
Interna- tionalen Währungsfonds und den gemeinsamen Märkten, wie dem
Europäischen und - neuerdings - dem Südamerikanischen, MERCOSUL, vorangetrieben
wird, wird zu gewaltigen sozialen und ökologischen Katastrophen führen.
Eigentlich ist dies nur eine Fortsetzung und Beschleunigung der Entwicklung,
die sich weltweit während der letzten fünf Jahrzehnte ausbreitete
und immer mehr um sich greift. Hunderte von Millionen von Bauern mußten
ihre angestammte Heimat aufgeben und in die Städte ziehen. Daher die riesigen
Elendsviertel wie in Mexico-City, heute zweiundzwanzig Millionen Menschen -
ein Alptraum von Stadt - und in all den anderen Millionenstädten der sogenannten
Dritten Welt - Manila, Rio de Janeiro, Sao Paulo, Caracas, Bogotá, Lima,
usw. Dieser Prozeß nimmt jetzt auch in China gewaltige Ausmaße an.
In Shanghai ist er schon weit fortgeschritten, bis zur Jahrtausendwende - in
knapp 5 Jahren - wird auch für diese Stadt eine Bevölkerungszahl von
über zwanzig Millionen erwartet. Das Elend wird unbeschreiblich sein.
Warum sind die Indianerbauern in Chiapas gegen den gemeinsamen Markt mit USA
und Kanada? Weil sie wissen, daß sie, wenn die Produkte der amerikanischen
Landwirtschaft frei nach Mexiko importiert werden, in den Elendsvierteln der
Großstädte landen werden. Es protestierten auch amerikanische Industriearbeiter
gegen die NAFTA. Ihnen ist bewußt, daß mit zunehmender Verelendung
in Mexiko, dorthin amerikanische Arbeitsplätze exportiert werden.
Die Zollunionen und die anderen Instrumente zur weltweiten Verschmelzung aller
Märkte dienen nicht den Menschen. Sie sind dazu da, um den transnationalen
Konzernen die Ausweitung ihrer Macht zu erleichtern.
Schon der erste Schritt, die moderne Landwirtschaft mit ihren Agrargiften,
Chemiedüngern und der mit Kraftfutter aus Übersee arbeitenden Massentierhaltung,
ist nicht dadurch entstanden, daß von der Industrie echte Bedürfnisse
der Bauern befriedigt wurden. Es war doch umgekehrt! Die Industrie hat Hoch-
und Fachschulen, Beratung und Forschung beherrscht und den Bauern ihre Methoden
praktisch aufgezwungen, sodaß der "moderne" Landwirt zu einem
bloßen Anhängsel der Industrie wurde.
Es stimmt ja nicht, daß heute in einem Land der "Ersten Welt",
z.B. USA, weniger als 2% der Gesamtbevölkerung als "moderne Landwirte"
ausreichen, um alle zu ernähren, während dazu früher mehr als
40% der Menschen in einer Volkswirtschaft als bodenständige Bauern notwendig
waren. Der traditionelle Bauer war, gesamtwirtschaftlich gesehen, ein, seine
eigenen Betriebsmittel produzierendes System der Erzeugung und Verteilung von
Nahrungsmitteln. Dagegen sind diejenigen, die sich heute "moderne Landwirte"
nennen, kaum mehr als Traktorfahrer und Giftstreuer. Für einen sinnvollen
Vergleich müßte man in der gesamten Volkswirtschaft alle Arbeitsstunden
addieren, die direkt oder indirekt mit Produktion und Verteilung von Lebensmitteln
zu tun haben. Heute beginnt das in den Ölfeldern und Erzabbaugebieten,
auf den Soja-, Ölpalmen- und Tapiokaplantagen in Übersee, geht über
Raffinerien, Stahlküchen und Aluminiumhütten, Agrargift-, Kunstdünger
und Kunststoffwerke, Maschinenfabriken, große Mühlen und Schlachthäuser,
Verpackung, Finanzsystem, Handelsketten, Transport und Lagerung usw., usw. Hinzurechnen
muß man die Arbeitsstunden, die ein EU-Bürger aufbringen muß,
um die Steuern für die zweistelligen Milliardensummen zu zahlen, die in
Subventionen gehen von denen der "Landwirt" am wenigsten, die Industrie
am meisten sieht. Schlimmer noch sind die Milliarden, die zur Vernichtung von
Überschüssen aufgebracht werden müssen. Aus diesem Gesamtbild
ergibt sich ein Anteil von über 40% landwirtschaftlich Beschäftigter.
Solche Überlegungen stellt die Brüsseler Bürokratie natürlich
nicht an, denn die "moderne Landwirtschaft" hat sehr wenig mit erhöhter
Effizienz zu tun, auch nicht mit "freier Marktwirtschaft". Der Markt
ist total manipuliert!
Es geht doch im Grunde um eine schrittweise und systematische Übernahme
der Landwirtschaft durch die großen Konzerne der Chemie und der Maschinen,
der Nahrungsmittelverarbeitung und -vermarktung sowie der Banken. Der echte
Bauer soll verschwinden. Übrig bleibt ein winziges Rädchen in einer
gewaltigen Maschine, fest eingegliedert, ohne die geringste eigene Bewegungsfreiheit.
Wenn heute in Norddeutschland Schweine gemästet werden, mit aus Südbrasilien
importiertem Sojaschrot, für dessen Plantagenwirtschaft die letzten subtropischen
Regenwälder am Uruguay und Paraná gerodet wurden und Hunderttausende
von durch diese Politik entwurzelte Menschen jetzt den tropischen Regenwald
am Amazonas brandroden, die geschlachteten Schweine per LKW über die Alpen
nach Süditalien transportiert werden, damit dort Salami Italiano gemacht
wird, die wieder zurück über die Alpen nach Nordeuropa transportiert
wird, dann sieht die Technokratie darin nicht etwa hirnverbrannten Wahnsinn,
nein, für sie ist das Fortschritt. Nach den sozialen und ökologischen
Kosten wird nicht gefragt, auch nicht nach der Nachhaltigkeit.
Auf der ganzen Welt - auch in der "Ersten" - werden heute sukzessive
und systematisch die letzten noch überlebenden traditionellen sozialen
Strukturen, die historisch und organisch gewachsen sind, die bodenständig
und menschlich signifikant sind, den Menschen Geborgenheit und Lebensinhalt
geben, die auf überlieferter Weisheit aufbauend ökologisch nachhaltig
sind, demoralisiert, entfremdet, entwurzelt, wenn nicht vertrieben und ausgelöscht.
Bauern, Fischer, Handwerker, die Einwohner der letzten Wildnisse, die indigenen
Völker, alle sind betroffen, in Europa und Nordamerika nicht weniger als
in Asien, Afrika oder Australien. Man beobachte nur, was sich in Spanien bereits
abspielt, in Portugal und Griechenland, was in Schweden und Österreich
auf uns zukommt, was im Moseltal passiert, wie am Sao Francisco die modernen
Plantagen für den Export in die EU die Einheimischen entwurzeln, vertreiben
oder zu Tagelöhnern degradieren.
Die Entwurzelung der Bauern ist in der "Dritten Welt" weit schlimmer
und schmerzhafter als in der "Ersten". Muß ein österreichischer,
spanischer, schwedischer oder englischer Bauer aufgeben, bleibt er immerhin
noch in seinem Sprachraum, in seinem Kulturkreis, ist sozialversichert. Wenn
der Indio in Chiapas oder Guatemala im Elendsviertel der Großstadt landet,
sein Dorf sich leert und vom großen Viehzüchter übernommen wird,
ist seine Sprache, seine Kultur weg - für immer! Es ist kultureller Genozid.
Auch die Gentechnologie, so wie sie jetzt von den Agrargiftmischern vorangetrieben
wird, soll den Bauern noch weiter enteignen, indem ihm auch noch die Kontrolle
über sein Saatgut genommen wird. Die Subvention für das Roden der
alten Obstsorten geht in diese Richtung.
Dagegen wehren sich die Bauern in Asien, dagegen kämpfen die Indianerbauern
in Mexiko, dagegen müssen sich alle noch überlebenden bodenständigen
Bauern und andere traditionelle Kulturen auflehnen - bevor es zu spät ist.
Die bereits verschwundenen Kulturen kommen nie wieder, die überlebenden
müssen sich bewußt sein, daß sie weltweit alle im selben Boot
sitzen. Sie müssen Wege finden, gemeinsam vorzugehen, mit lokaler Aktion
und weltweiter Koordination.
Die Österreicher müssen - falls ein Wiederausstieg aus der EU nicht
mehr machbar sein sollte - zusammen mit den übrigen bedrohten europäischen
Bauern Druck ausüben, damit sich die Brüssler Agrarpolitik in Richtung
regenerativer Anbauweisen mit möglichst lokaler Vermarktung ändert.
Sie müssen auch Kontakt mit den Bauernbewegungen in aller Welt aufnehmen.
Die Globalisierung der Wirtschaft dient auch dem Abbau sozialer Errungenschaften
in der "Ersten Welt". Durch den Export von Arbeitsplätzen und
das Anschwellen der Arbeitslosigkeit in der "Ersten Welt" sollen die
Arbeiter wieder gefügig gemacht werden.
Bauern und Arbeiter müssen sich miteinander verständigen.
Wir sind heute nahe an die 6 Milliarden Menschen. Jedes Jahr kommen über
hundert Millionen hinzu. Davon leben noch über drei Milliarden in traditionellen
sozialen Strukturen. Wenn davon auch nur eine Milliarde entwurzelt wird, was
bei einer Fortsetzung der jetzigen globalen Wirtschaftspolitik sicher ist, werden
die Folgen katastrophal sein. Es wird zu Völkerwanderungen in unaufhaltbaren
Ausmaßen kommen. Die Zeichen sehen wir bereits überall. Die Technokratie
hat noch nicht begriffen, wie selbstmörderisch, auch für sie, ihr
Vorgehen ist.
4. Mai 1995 José A. Lutzenberger, R. Jacinto Gomes, 39 90040-270 Porto
Alegre/RS Brasilien
Redigiert von Matthias Reichl für den 77. Rundbrief ( Juni 1995) des
Begegnungszentrums für aktive Gewaltlosigkeit (Wolfgangerstr. 26, A-4820
Bad Ischl).
José A. Lutzenberger wurde am 21.3. 1995 von der Hochschule für
Bodenkultur in Wien mit dem Ehrendoktor-Titel geehrt. Er war anschließend
auf Vortragsreise in Österreich.
Eine Video-Dokumentation dazu: José Lutzenberger: Gegen die Abschaffung
der Bauern. Kritik der techno-bürokratischen Machtstrukturen. Vortrag in
der HBLA f. Landwirtschaft Ursprung-Elixhausen am 25.3.1995. Video-Film (VHS,
Länge: 180 Minuten). öS 260,- erhältlich im Begegnungszentrum
(Alp- bzw. Zukunftsträumer).
José A. Lutzenberger (ORF, FS 2, 22.3.1995):
5 Krisen:
1. Finanzkrise - ökonomische Zusammenbrüche - Börsenspekulationen
und weltweiter Finanztransfers
2. Energiekrise - niedriger Ölpreis durch korrupte Regierungen (Ölscheichs,
Mexiko...) aufrechterhalten - behindert Alternativenergien
3. Landwirtschaftskrise - keine nachhaltige, ökologische Bewirtschaftung
4. Seuchen - immer schnellerer, weltweiter Transfer von Erregern - Immunschwäche
u.a. bedingt durch falsche Ernährung, Stress, ruhelose Lebensweise
5. Klimakatastrophe.
LUTZENBERGERS WARNUNG VOR DEM MARKT DER EU
Wir haben schon öfters Berichte über und Texte von José A.
Lutzenberger - Experte für biologische Landwirtschaft, Umweltminister Brasiliens
von 1990-92, gewürdigt mit dem "Alternativen Nobelpreis" 1988
- abgedruckt. Bei den verschiedensten Anlässen hat er uns vor den Folgen
der Großmachtpolitik gewarnt, auch vor einen Beitritt zur Europäischen
Union (EU). Knapp vor der entscheidenden Abstimmung im österreichischen
Nationalrat richtete er am 24.10.'94 einen dringenden Appell an alle Abgeordneten,
aus dem wir - mit notwendigen Ergänzungen - zitieren.
Lutzenberger könnte sich eine europaweite politische Vereinigung vorstellen,
die den Menschen dient. "...Dies bedeutet: freie Bewegung für Ideen,
Wissen, Kunst, Reisen, Gastfreundschaft. Die fortschreitende Globalisierung
der Wirtschaft aber, d.h. uneingeschränkte Bewegungsfreiheit für Waren
und Kapital, wie sie von GATT, IWF, Weltbank und regionalen Entwicklungsbanken,
den verschiedenen gemeinsamen Märkten, der "Grünen Revolution"
usw. gefördert wird, hat bereits weltweit zur Entwurzelung und Verelendung
von Hunderten Millionen Menschen geführt, und dieser Prozeß geht
weiter, auch in der "Ersten Welt"!
Überall in der Welt werden heute die letzten noch überlebenden,
eigenständigen, historisch und organisch gewachsenen sozialen Strukturen,
die ökologisch nachhaltig und menschlich sinnvoll und befriedigend sind,
entwurzelt, demoralisiert, destrukturiert, wenn nicht total ausgelöscht.
Im Oktober 1993 haben in Bangalore, Indien, eine halbe Million Kleinbauern protestiert
- gegen die Globalisierung der Wirtschaft und für organischen Landbau.
Die gemeinsamen Märkte, GATT, etc. sind ja nicht von Menschen für
Menschen konzipiert, sondern sie sind Instrumente der transnationalen Konzerne.
International sind sie die Fortsetzung des traditionellen Kolonialismus mit
subtileren Methoden, ohne Waffen. In der Ersten Welt dienen sie der Neutralisierung
der sozialen Errungenschaften der Arbeiterschaft, indem immer mehr Arbeitsplätze
in Länder mit niedrigen Löhnen exportiert werden. Als in Mexiko die
Bauern in Chiapas gegen NAFTA kämpften, haben auch US-amerikanische Arbeiter
protestiert, nicht aus Solidarität mit den mexikanischen Bauern, sondern
weil sie wissen, daß die zunehmende Verelendung in Mexiko dazu führen
wird, daß Arbeitsplätze aus den USA dorthin exportiert werden.
Im Europäischen Gemeinsamen Markt werden nicht nur immer noch Bauern
- an erster Stelle die Kleinbauern - die noch nachhaltig und ökologisch
wirtschaften, entwurzelt - wie ich z.B. an der Mosel beobachten konnte, aber
auch in Spanien, Portugal und Griechenland. Aus allen Branchen der Wirtschaft
werden Arbeitsplätze in Billigländer exportiert.
Ein Beitritt Österreichs zum Gemeinsamen Markt wird eine Katastrophe
für die österreichischen Bauern bedeuten. Die Agrarpolitik der EU
hat sowieso nichts mit freier Marktwirtschaft zu tun, sie ist das Gegenteil!
Milliarden an Steuergeldern fördern eine Überschußproduktion,
basierend auf ökologisch und sozial katastrophalen Anbaumethoden, und weitere
Milliarden muß der Steuerzahler aufbringen für das Vernichten oder
Verschenken der Überschüsse, wodurch gleichzeitig in Ländern
der Dritten Welt noch überlebende gesunde Bauernkulturen zugrunde gerichtet
werden. Das klare Ziel der Brüsseler Bürokratie ist die Entwicklung
hin zu einer total von der transnationalen Technokratie abhängigen "Agro-business"-Landwirtschaft;
da gibt es keinen Platz mehr für Kleinbauern. Auch Arbeitsplätze in
allen anderen Bereichen der Wirtschaft werden vernichtet.
Österreich könnte noch einen gesunden und nachhaltigen Weg gehen.
Es ist bereits Vorreiter im ökologischen Landbau - dem einzigen Ausweg
für eine nachhaltige Versorgung mit Nahrungsmitteln. Auch die regenerative
Landwirtschaft wird mittelfristig den Gemeinsamen Markt nicht überleben.
Vielleicht besinnen sich die österreichischen Volksvertreter noch rechtzeitig.
Österreich könnte Modell für eine gesündere, nachhaltige
Welt werden. Eine einmalige Chance, die nicht verspielt werden darf.
José A. Lutzenberger mitunterzeichnet von den Umweltwissenschaftern
Univ. Prof. Dr. Hermann Knoflacher, Univ.Prof. Dr. Rupert Riedl und Univ.Doz.
Dr. Peter Weish.
(Erklärung einige der verwendeten Abkürzungen
GATT: Globales Handelsabkommen
NAFTA: die nordamerikanische Freihandelszone von USA, Kanada und Mexiko
IWF: Internationaler Währungsfond
EU: Europäischen Union )
Mitte November 1994 wurde in Jakarta (Indonesien) der Startschuß für
den weltweit größten Gemeinsamen Markt gegeben. Bis 2020 sollen von
USA bis Chile und von Korea und Japan über China bis Südostasien möglichst
alle an den Pazifik angrenzenden Länder zu einer gemeinsamen Wirtschaftszone
zusammengeschlossen sein. Nicht nur für Lutzenberger - und die verstorbenen
Leopold Kohr und Robert Jungk - eine Horrorvision! (Redigiert von Matthias Reichl,
1995)